Dunkles Gold

Autor*in
ISBN
978-3-407-75491-2
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
336
Verlag
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Weinheim
Jahr
2020
Lesealter
12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Ein Gespräch ihrer Mutter mit deren Freundin Tamara sowie die Anregung ihrer Geschichtslehrerin bringen Laura dazu, sich vorzustellen, dass der Besitzer des Erfurter Judenschatzes, der Geldhändler Kalman von Wiehe, eine Tochter namens Rachel hatte. Eine Zeitreise beginnt.

Beurteilungstext

Eigentlich ist Laura von dem Thema ‚Erfurter Judenschatz‘ genervt, denn ihre Mutter lebt für ihre Arbeit als Kunsthistorikerin, was auch Laura deutlich zu spüren bekommt. Wie oft wurde sie als kleines Kind bei ihrer Oma geparkt, wenn ihre Mutter bei Seminaren oder Kongressen war! Das Thema ‚Juden‘ kennt Laura aus dem Geschichtsunterricht, verbunden mit dem Holocaust oder den Streitigkeiten um den Staat Israel. Doch als Tamara, eine Studienfreundin ihrer Mutter, zu Besuch kommt und auch deren Interesse an dem Schatz deutlich wird, entsteht bei Laura plötzlich die Idee, dass der Besitzer des Schatzes, der Geldhändler Kalman von Wiehe, eine Tochter in ihrem Alter gehabt haben muss. Schnell findet sie auch einen passenden Namen – Rachel.
Mit dem zweiten Kapitel des Buches teilt sich dessen Handlung in zwei parallele Stränge – der eine bezieht sich auf Lauras Situation im 21. Jahrhundert, der andere auf Rachel als Tochter des Kalmans von Wiehe im Jahr 1349, die gemeinsam mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Joschua, ihrem Vater und der Magd Agatha auf einem geräumigen Anwesen in Erfurt lebt. Die Mutter ist vor fast einem Jahrzehnt bei der Geburt des dritten Kindes ebenso wie dieses gestorben. Rachel ist bereits einem jungen Mann aus Nürnberg als Braut versprochen, sie selbst kennt diesen nicht und denkt mit gemischten Gefühlen an die in zwei Jahren stattfindende Heirat. Doch erst nach Joschuas Bar Mizwa darf Rachel das väterliche Haus verlassen. Agatha, die Rachel als Ersatzmutter in die hausfraulichen Pflichten einführt, rät ihr, die Zeit als Kind und Jugendliche zu genießen – das Leben im Mittelalter ist für Ehefrauen mit vielen Aufgaben und Anstrengungen verbunden. Die Handlung beginnt mit dem unerwarteten Besuch eines langjährigen Freundes aus Köln, des Meir Nachum, der auf der Durchfahrt nach Polen ist, wo er sich ein neues Leben aufbauen will. Bereits das Abendessen wird zur Krisensitzung, an der der Rabbiner Reb Jud Menachem, der Gemeindevorsteher Nathan sowie Meir Nachum und Kalman von Wiehe teilnehmen. Der Gast bringt beängstigende Nachrichten, er ist vor der Pestilenz und der sich anschließenden Judenverfolgung durch die Christen geflohen. Zweitausend Juden sind in Straßburg getötet worden, in Worms haben sich vierhundert Juden aus Angst vor Verfolgung und Ermordung verbrannt. Kasimir III, der Herrscher von Polen, habe den Juden die Möglichkeit des Siedeln und Schutz angeboten. Rachel, die die Männer mit Speisen und Getränken versorgt, wird Zeugin der Besprechung. Schon bald beginnt der Vater mit ersten Fluchtvorbereitungen, in die er nur die Tochter einweiht. Agatha und Burkhard sind Christen, sie würden unnötig als Mitwissenden in Gefahr und Konflikt gebracht werden, Joschua ist jung, voller Tatendrang und Abenteuerlust – er verstünde die Tragweite des Geschehens nicht. Nachdem er mit Rachel zusammen Gold, Silber, Münzen und Schmuck in einem Versteck im Keller verborgen hat, erklärt er ihr, dass sie als arme Juden reisen müssen, damit sie nicht überfallen und getötet werden. Daher dürfe Rachel niemandem von dem Versteck erzählen. Aber der Vater geht noch weiter: Joschua und Rachel müssen die Namen von Burkhard, dem Knecht, und Agatha, der Magd, annehmen – als Christen seien sie auf der langen Reise weniger gefährdet. Er selbst habe bereits einiges organisiert, damit sie außerhalb der Stadt ein Gefährt bekämen, Meir Nachem hätte Silberbarren mitgenommen, damit der Kalman mit den Kindern in der polnischen und neuen Heimat nicht auf Almosen angewiesen seien. Während Agatha und Burkhard am Sonntag in der Kirche sind, täuscht der Vater einen Spaziergang vor, nichts nehmen sie mit, was auf eine Flucht hinweisen könnte. Joschua erfährt erst, nachdem sie die Stadtmauern längst hinter sich gelassen haben, dass sie nicht mehr nach Hause zurückkehren werden. Sie ahnen nicht, dass es ein Abschied für immer sein wird und welche Gefahren ihnen drohen.
Laura beschließt, die Geschichte um die fünfzehnjährige Rachel und deren Flucht aus Erfurt als Graphic Novel zu gestalten. Für diesen Zweck möchte sie mehr über das Leben moderner Juden erfahren und beschließt, Kontakt mit Alexej, der mit seiner Familie als jüdischer Einwanderer aus Russland nach Erfurt gekommen ist und Lauras Gymnasium besucht, aufzunehmen. Nach einer anfangs zögerlichen Annäherung weiht Laura Alexej in ihren Plan ein, der davon nicht nur begeistert ist, sondern sie auch bei ihren Überlegungen unterstützt. Doch zeigt sich bald, dass auch im 21. Jahrhundert die Zugehörigkeit zum Judentum ein Kriterium für andere ist, die Menschen auszugrenzen, zu mobben und ihnen Gewalt zuzufügen. Laura ist sich dessen nicht bewusst, sie ahnt nicht, was Alexej und dessen Familie in Deutschland schon an Übergriffen erlebt haben. Die zwischen ihnen entstehende Beziehung erlebt Höhen und Tiefen, nach und nach wird Laura bewusst, dass der Antisemitismus noch immer vorhanden ist – selbst in ihrem Freundeskreis, den sie als loyal und aufgeklärt empfunden hat.
Im Jahre 2021 feiert Deutschland bundesweit‚ 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‘, viele Konzerte und Veranstaltungen sind geplant, um „[…] jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.“ (https://2021jlid.de, Startseite) Die Filmakademie Baden-Württemberg hat aus diesem Anlass einen Film mit dem Titel „Jung und jüdisch in Baden-Württemberg‘ herausgebracht, die drei Hauptdarsteller*innen sind Student*innen an verschiedenen Universitäten und erzählen von ihren Erfahrungen mit ihrer Religion und der Haltung ihrer Mitmenschen. In dem vom Zentralrat der Juden initiierten und durchgeführten Begegnungsprojekt „Meet a Jew“ besuchen bundesweit ehrenamtliche jüdische junge Erwachsene Schulen, Sportvereine und andere Institutionen, um miteinander in Kontakt zu kommen und über ihre Religion und deren Umsetzung zu sprechen. Im Bildungsplan ist das Judentum ein fester Baustein in allen geisteswissenschaftlichen Fächern, dennoch zeigt sich, dass nur wenige Menschen wissen, wo die ihrem Wohnort nächste jüdische Gemeinde aktiv ist, dass der Besuch einer Synagoge keine Selbstverständlichkeit darstellt. Die gewalttätigen Übergriffe gegen jüdische Mitbürger oder Einrichtungen beweisen, dass von einem Miteinander auch 1700 Jahre nach Ankommen der Juden in Deutschland nicht die Rede sein kann. Daher liefert das vorliegende Buch einen guten Impuls, ins Gespräch zu kommen, aufzurütteln, aber auch klischeehaftes Denken zu bereinigen. Wie auch der vielfach ausgezeichnete Film ‚Masel Tov Cocktail‘ von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch aus dem Jahr 2020 zeigt der Roman, dass jüdische Mitbürger als Mitbürger wahrgenommen und nicht wie Exoten behandelt werden wollen.
Die Hauptfigur Laura nutzt Alexej zunächst als Informanten, als Teil ihres Projekts, sie hält sich keinen Spiegel vor, um zu überlegen, wie es ihr in Alexejs Situation ginge. Dass es dann doch zwischen beiden ‚funkt‘, geht auf Alexejs Reflexionsfähigkeit zurück. Insofern zeigt die Hauptfigur wenig Entwicklung innerhalb des Buches. Auch deren Idee, dass Rachel und Noah ein „ruhiges, friedliches Leben [hätten]“ (S. 326), zeigt, dass sie den Ernst der Juden im Mittelalter nur bedingt erkannt hat. Während der historische Handlungsstrang gut durchdacht und strukturiert erscheint, ergeben sich bei dem der Neuzeit teilweise Brüche, u.a. erscheint Lauras Verhalten wiederholt diskussionswürdig, aber auch die Frage ihrer Mutter an Alexejs Familie, was diese an Weihnachten unternehmen wolle, irritiert, weil Juden nicht Weihnachten, sondern Chanukka feiern. Insgesamt ist das Buch jedoch gelungen.

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Veröffentlicht am 07.09.2021