Die Zeit der Wunder

Autor*in
Bondoux, Anne-Laure
ISBN
978-3-551-58241-6
Übersetzer*in
von Vogel, Maja
Ori. Sprache
Französisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
192
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2011
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
12,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Gemeinsam mit seiner Pflegemutter Gloria verlässt Koumaïl als kleiner Junge den Kaukasus. Das Ziel der beiden ist Frankreich. Die Zeit der Flucht vor dem Krieg ist geprägt von Angst, Krankheit, Erschöpfung und Verzweiflung. Dennoch verliert Koumaïl nie seine Hoffnung, bis er eines Tages als 12-Jähriger sein Ziel erreicht. Was erwartet ihn in Frankreich, im Land der Menschenrechte?

Beurteilungstext

Der Inhalt des gefühlvollen und politischen Jugendromans der Französin Anne-Laure Bondoux ist keine leichte Kost. Es geht um Krieg, ethnische Minderheiten, Völkermord, Flucht, um das Recht aller Menschen auf Bildung und um den Wunsch nach einem Miteinander ohne Lügen, Gewalt und Erniedrigung. Anne-Laure Bondoux nimmt in ihrem Roman allerlei "Erwachsenenworte" in den Mund, ist dabei aber niemals belehrend.

Zu Beginn des Romans stellt sich der Ich-Erzähler den Leserinnen und Lesern vor: Blaise Fortune sei sein Name. Er sei Bürger der Französischen Republik und habe die ersten zwölf Jahre seines Lebens im Kaukasus verbracht, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, zusammen mit Gloria, von der er später noch erzählen wird. Damals hieß er Koumaïl und er war sieben Jahre alt, als 1992 die Flucht, die er sehr anschaulich beschreibt, begann: Vom "Großen Haus" in einer nicht beim Namen genannten großen Stadt in eine kleines Dorf in der Nähe der Berge, von dort in die Hafenstadt Suchumi, und von dort per Schiff, Anhalter, Lastwagen oder zu Fuß weiter westwärts Richtung Frankreich.

Der Großteil des 192 Seiten langen und in 49 Kapitel unterteilten Romans handelt von der Flucht und von der Geschichte, von Koumaïls Geschichte, die Gloria immer wieder erzählt. Sie habe Koumaïl als Baby nach einem Eisenbahnunglück aus einem brennenden Zug gerettet, sich fortan um ihn gekümmert und beschlossen, ihn nach Frankreich zu bringen, denn von dort kamen seine Eltern, und dort würde es ihm besser ergehen als im Kaukasus.

Gloria ist eine starke und selbstlose Frau: Sie schwächelt nie und trägt während der Flucht immer den Rucksack. Die Geschichte allerdings, die sie erzählt, Koumaïls Geschichte, ist so nie passiert. Vielmehr ist sie, Gloria, die Mutter von Koumaïl und flieht mit ihm nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor dem Vater des Jungen, dem Rebellenführer Zem Zem. Dennoch entscheidet sie sich für diese Lügen, denn mit ihnen möchte sie ihr Leben und vor allem das Leben des kleinen Helden Koumaïl erträglicher machen. Nur aufgrund der Lügen darf Koumaïl letzten Endes in Frankreich bleiben, während es ihr nicht möglich war, die Grenze zu passieren. Als 20-Jähriger macht Blaise Fortune schließlich die schwer kranke Gloria in Tiflis, Georgien ausfindig und erfährt, dass sie seine Mutter ist.

Manches Mal mag der Leser verwirrt sein von den vielen Sprüngen in der erzählten Zeit und von den zahlreichen Versionen dieser einen Geschichte, die Gloria erzählt. Bisweilen wirkt die Ernsthaftigkeit des Romans erdrückend und die Darstellung Frankreichs als Land, in dem die Menschenrechte erfunden wurden zu glorifizierend.

Der Protagonist des Jugendromans wendet sich zwar als Ich-Erzähler an den Leser und spricht ihn gelegentlich auch direkt an, allerdings macht der fehlende Bezug zur Lebenswirklichkeit der Zielgruppe eine Identifikation fast unmöglich - zuviel der Vernunft, die die Autorin Koumaïl abverlangt, und zuviel der Verzweiflung, die den Helden während der Flucht natürlich oft heimsucht. Der Jugendroman regt aber gerade deshalb zum Nachdenken an. War es notwendig, Koumaïl nach Frankreich zu bringen? Wäre es nicht besser gewesen, trotz der widrigen Umstände im Kaukasus zu bleiben? Warum verneinen die Menschen dort ihr Land, ihre Geschichte, ihre Familie, ihre Folklore?

Inmitten der tragischen Thematik wirken die Lebensweisheiten, die Gloria in den Dialogen mit Koumaïl von sich gibt, erheiternd. Allerdings stören beim Lesen die zahlreichen Wiederholungen, die bei der Übersetzung hätten vermieden werden können. Die vielen Stationen der Flucht gewähren interessante, vom Thema ablenkende Einblicke in die Welten anderer Menschen, auf die Koumaïl und Gloria in den Jahren der Flucht treffen, beispielsweise in die Welt einer Romafamilie, bei der die beiden in Rumänien Zuflucht finden. Gelegentlich gelingt es Koumaïl, Abstand zu gewinnen von seinem Schicksal, sei es, dass er mit anderen Flüchtlingskindern spielt, sich verliebt oder die Reise- bzw. Fluchtroute im Atlas nachzeichnet.

Das Titelbild des anspruchsvoll gestalteten Hardcovers spricht eher Erwachsene als Jugendliche an. Die diffusen Grautöne, das Wasser, das mit dem Horizont verschwimmt, das Kind, das auf einem Fass balanciert, passen nicht recht zu dem Titel des Romans und rufen nicht ernsthaft Gedanken an Wunder, Mut, Glück und Träume hervor.

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Diese Rezension wurde verfasst von mz.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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