Die Welt zum Zittern bringen, nur weil man da ist
- Autor*in
- Brinx, ThomasKömmerling, Anja
- ISBN
- 978-3-522-20265-7
- Übersetzer*in
- –
- Ori. Sprache
- –
- Illustrator*in
- –
- Seitenanzahl
- 256
- Verlag
- Thienemann
- Gattung
- Buch (gebunden)Erzählung/Roman
- Ort
- Stuttgart/Wien
- Jahr
- 2023
- Lesealter
- 14-15 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- Freizeitlektüre
- Preis
- 15,00 €
- Bewertung
Schlagwörter
Teaser
Marie, 15 Jahre alt, hat nach einem traumatischen Erlebnis beschlossen, nur noch in den Bäumen zu leben und den Boden nicht mehr zu berühren, denn sie bekommt in geschlossenen Räumen Panikattacken. Ihre Mutter musste ins Gefängnis, weil sie ihren gewalttätigen Ehemann Hermann getötet hat. Maries ältere Halbschwester Lisa hat die Familie verlassen, um dem unerträglichen Leben zu Hause zu entfliehen. Heimatbaum, wie Marie einen alten Ahornbaum liebevoll nennt, ist jetzt Maries neues Zuhause. Aber sie wird bedroht vom „Rot“, das in bestimmten Situationen über sie hereinbricht und das sie abzuwehren versucht. Das allein ist schon schlimm genug. Eine genauso große Bedrohung geht von der für sie zuständigen Betreuerin des Jugendamtes aus, die sie unbedingt wieder in einer Einrichtung unterbringen will. Da ist es gut, dass es Menschen in Maries Nähe gibt, die zu ihr halten und sie unterstützen. Als dann jedoch eine Familie auftaucht, die ihr Elternhaus kaufen will, verschärfen sich die Probleme für Marie auf drastische Weise.
Beurteilungstext
Der Titel des vorliegenden Jugendromans „Die Welt zum Zittern bringen, nur weil man da ist“ lässt nicht vermuten, welch komplexe Geschichte sich dahinter verbirgt. Dieses Buch ist ein Plädoyer für Menschen, die besonders und anders sind. Gleichzeitig werden die furchtbaren Auswirkungen geschildert, die häusliche Gewalt für alle Beteiligten haben kann. Damit thematisieren die Autorin und der Autor ein Thema, das in der Öffentlichkeit immer stärker in den Fokus gerät. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Szenen, in denen die körperlichen Übergriffe geschildert werden, durchaus auf manche*n Leser*in verstörend wirken können.
Die große Herzenswärme, mit der die berührende Geschichte der 15-jährigen Marie und ihrer Familie erzählt wird, findet auch Ausdruck in einer sehr bildhaften und poetischen Sprache. „Es ist so still, die Stille, wenn nur der Wald lebt.“ (S. 7) Oder „Mit dem Lachen hatte sie alle verzaubern können. Simsalabim, verzauberlacht.“ (S. 9)
Die Protagonistin Marie ist ein besonderer Mensch, sie liebt die Natur mit ihren Pflanzen und Tieren über alles. Aber sie kann seit dem Tag, an dem sich die Tragödie in der Familie ereignete, niemanden mehr beim Namen nennen, und deshalb hat sich Marie eine besondere Sprache zu eigen gemacht. So bekommen die Menschen, die ihr nahe stehen und sie freundlich behandeln, auch entsprechende Bezeichnungen. Da ist Elena Schmitt, die Studentin, die während ihres Studiums beim Jugendamt arbeitet und sich vehement für Maries ungewöhnliche Entscheidung einsetzt, nur noch draußen zu leben. Sie hat einen anderen Blick auf Maries Probleme als ihre Chefin, deshalb ist sie „die Gute“. Oder die ehemalige Mitarbeiterin der psychiatrischen Klinik Lilli, die riesige Schlappen an ihren geschwollenen Füßen trägt und Marie immer wieder mit Essen versorgt. Sie heißt „Schlappe“. Aber auch „Schnauz“ mit seinem dichten Bart über den Lippen, der gutmütige Inhaber der Tankstelle, bei dem ihre Mutter früher gearbeitet hat und bei dem Marie und ihre Schwester Lisa viel Zeit verbracht haben. Weitere Vertraute sind „Taube“, „Eichhorn“ und ganz besonders „Heimatbaum“, der riesige Ahornbaum, auf dem sie ihr neues Zuhause im Wald eingerichtet hat. Die Betreuerin vom Jugendamt dagegen ist „die Karierte“, ihr Stiefvater Hermann „das Verhängnis“ und „das Rot“ die Bedrohung, die nur für Marie existiert und die bei ihr heftige Panikattacken auslösen kann.
Die Geschichte, die den Leser*in von Anfang an in ihren Bann zieht, wird auf verschiedenen Ebenen erzählt. So beginnt das 1. Kapitel des Buches, von insgesamt 15, mit einem kursiv gedruckten Text, aus dem hervorgeht, dass sich das eigentlich schöne Leben von Marie und ihrer etwas chaotischen Mutter durch das Zusammenleben mit dem „Verhängnis“, dem neuen Ehemann der Mutter, sehr verändert hat. Diese kursiv gedruckten Texte, mal länger oder auch nur kurz, sind Rückblenden, die besondere Ereignisse im Familienleben schildern, und sie verdeutlichen, wie sich das Regiment, das Hermann schließlich führt, in eine sehr bedrohliche Richtung entwickelt.
Parallel dazu lassen die Autorin und der Autor den Leser*in Schritt für Schritt immer tiefer in die unterschiedlichsten Lebenssituationen der anderen, für die Geschichte wichtigen Figuren eintauchen. Es ist eine geschickte Vorgehensweise, dass diese Situationen recht schnell wechseln und so eine Spannung erzeugt wird, der man sich nicht entziehen kann und die dazu veranlasst, einfach immer weiterzulesen. Der Autorin und dem Autor gelingt es auf eindrucksvolle Weise, ihre Figuren mit viel Feingefühl zu schildern, ihre Persönlichkeitsmerkmale detailliert zu beschreiben und so ein differenziertes Bild für die Leser*innen entstehen zu lassen.
Die Leser*innen erfahren, dass Lisa, Maries Halbschwester, die Familie schon vor ein paar Jahren verlassen hat, weil die Mutter die immer häufiger werdenden körperlichen Attacken des Ehemannes nicht anzeigen will, obwohl der Arzt im Krankenhaus ihr das nahelegt und sie genau weiß, wie sehr die beiden Töchter unter der Situation leiden. Lisa glaubt, ihr Leben gut im Griff zu haben bis sie feststellt, dass sie schwanger ist, mit 19 Jahren. Ihr geordnetes Leben gerät ziemlich aus den Fugen: Sie belügt ihren Freund, um die im Gefängnis sitzende Mutter zu verheimlichen, sie muss immer wieder unfreiwillig Verantwortung für Marie übernehmen, die aber nicht mit Lisa spricht, seit sie weggegangen ist.
Als schließlich das Ehepaar Koch mit seinem Sohn Jori auf den Plan tritt, um das leerstehende Elternhaus von Marie und Lisa zu kaufen, greift Marie zu drastischen Mitteln, denn sie will verhindern, dass in „das Mörderhaus“ Menschen einziehen und dort unglücklich werden. Obwohl sich zwischen Jori und Marie eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt, weiß Jori lange nicht, woran er mit Marie wirklich ist. Aber er erkennt, wie hilflos sie dem „Rot“ ausgeliefert ist und tut letztlich alles, um ihr zu helfen.
Der Autor und die Autorin schaffen es auf bemerkenswerte Weise durch den schnellen Wechsel der Erzählsituationen, die Spannung über den Ausgang der Geschichte auf einem hohen Niveau zu halten. Dabei steht der Leser*in vor der Frage, welche Personen es schaffen werden, sich zu behaupten: Die, die es gewohnt sind, ihre Macht auszuspielen, nur nach Vorschriften zu handeln oder an den eigenen Profit zu denken, oder die vermeintlich Schwachen, die zunächst relativ hilflos erscheinen, aber am Ende doch solidarisch zusammenhalten? Da kommt der Titel des Buches ins Spiel: Wer bringt die Welt zum Zittern?
In dieser emotional aufwühlenden Erzählung wird der Leser*in intensiv mit einer Lebenswelt konfrontiert, deren geschilderte Auswirkungen nur schwer zu ertragen sind und auch stellenweise fassungslos machen. Dieser Roman hinterlässt lange einen betroffen machenden Nachklang.