Die Tribute von Panem X - Das Lied von Feuer und Schlange
- Autor*in
- Collins, Suzanne
- ISBN
- 978-3-7891-2002-2
- Übersetzer*in
- Hachmeister, SylkeKlöss, Peter
- Ori. Sprache
- Englisch
- Illustrator*in
- –
- Seitenanzahl
- 608
- Verlag
- Oetinger
- Gattung
- Buch (gebunden)Fantastik
- Ort
- Hamburg
- Jahr
- 2020
- Lesealter
- 14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
- Einsatzmöglichkeiten
- Bücherei
- Preis
- 26,00 €
- Bewertung
Teaser
Man kennt ihn als bösen Gegenspieler von Katniss Everdeen, doch war Coriolanus Snow stets ein schlechter Mensch? War seine Entwicklung unausweichlich?
Beurteilungstext
Suzanne Collins hatte mit ihrer dystopischen Trilogie „Die Tribute von Panem“ in den späten 2000er Jahren den Grundstein für eine neue Jugendliteratur-Ära gelegt. Es folgten ähnliche Jugendbücher, die immer wieder mit „Panem“ verglichen wurden und auf den Erfolgszug namens „Mehrteiler über Zukunft/Liebe/Systemauflehnung“ mehr oder weniger erfolgreich aufsprangen. 10 Jahre nach dem Abschluss der Panem-Trilogie erschien nun das Prequel von Collins und nennt sich „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ (original „The Ballad of Songbirds and Snakes“). Die Nummer 10 (X) im Titel ordnet die Handlung sogleich zeitlich ein: Die zehnten sogenannten Hungerspiele stehen kurz bevor, 64 Jahre bevor die Originalheldin Katniss die Arena betritt.
Die dystopische Ordnung ist somit die gleiche wie bisher bekannt: Es gibt das mächtige, regierende Kapitol, von dem zwölf Arbeiter*innen-Distrikte in größer Abhängigkeit leben, wobei sie außerdem militärisch überwacht, gegängelt und bestraft werden. Als Zeichen der Macht über alle Distrikte wurde nach der letzten Auflehnung der Rebell*innen vor 10 Jahren die Hungerspiele ins Leben gerufen. Jedes Jahr wird je ein Junge und ein Mädchen pro Distrikt ins Kapitol entsendet, um dort gegen die anderen Jungen und Mädchen in einer Arena auf Leben und Tod zu kämpfen. Die letzte, lebende Person darf als Gewinner*in zurück in den Heimatbezirk. Die anderen haben ihren Tribut gezahlt. In diesem Roman begleiten die Leser*innen nun Coriolanus Snow, der in den Originalbänden bereits als Gegenspieler Präsident Snow bekannt ist. Kurz vor dem Schulabschluss wird er als Mentor für eines der weiblichen Tribute erwählt mit dem Ziel, ihr zum Sieg der diesjährigen Hungerspiele zu verhelfen und für sich selbst ein Stipendium zu gewinnen. Er und Lucy Gray Baird entwickeln in den wenigen Tagen vor der Arena eine spannende Dynamik, die den beiden vom erheblichen Nutzen ist während der Hungerspiele. Sowohl vor als auch nach dem Kampf der Tribute wird Coriolanus Verständnis von Freundschaft und Gerechtigkeit mehrfach auf den Prüfstand gestellt und die Lesenden begleiten ihn bei jeder Abzweigung und Entscheidung. Sein Ende mag aufgrund der Originalbände bekannt sein, doch war seine Entwicklung bis dahin so geradlinig? Hätte er sich nicht auch anders entscheiden können?
Der Roman verläuft chronologisch über 30 Kapitel stets aus der Sicht von Coriolanus. In drei Parts unterteilt werden die Entscheidungspunkte oder eher -phasen von Snow auch noch mal sichtbarer: Der Mentor, das Stipendium, der Friedenswächter. Und Coriolanus denkt viel, viel über sich und die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren, nach. Immer wieder zeigt uns Suzanne Collins wie eine Situation mit ihm von außen wahrgenommen ganz anders gewirkt haben kann, als von Snow innerlich bewertet. Als Leser*in erscheint es einem bald sehr schlüssig, warum sich Snow einer Beliebtheit erfreut, Mitgefühl bei seinen Mitmenschen auslöst und er sich selbst aber auch von anderen so gesehen immer wieder ungerecht behandelt fühlt. Doch lauscht man seinen Gedanken und Rechtfertigungen, seinem Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, so ist der Verlauf der Handlung weniger überraschend, zumal seine spätere Präsidentschaft den meisten Leser*innen bereits vorher bekannt sein wird. Doch sein Lebensende macht die Spannung des Buches nicht aus, sondern die Entwicklung des Protagonisten, oder vielleicht auch Antagonisten zu einem eleganten und gebildeten Scheusal. Suzannes Collins hat sich mit diesem Buch von der puren, abenteuerlichen Unterhaltung verabschiedet und nutzt vielmehr einen Charakter aus dem bestehenden Universum, um eine Frage der Menschlichkeit zu stellen. Dies macht sie ebenso mit den ersten Seiten deutlich, zitiert philosophische Mottos von Locke, Rousseau oder Hobbes, welche allseits die Frage behandeln: Ist der Mensch fähig oder unfähig, gut zu sein?
Der spannende „Wälzer“ wurde vom Oetinger Verlag herausgegeben und macht mit seinem Umfang und Gewicht bereits stark auf sich aufmerksam. Die rund 600 Seiten sind auf starkem Papier, mit großer Schrift, viel Seitenrand und manchmal auch großzügig verteilten Absätzen sicherlich für manche Kinder ab 14 besonders ansprechend. Schließlich kommt man gefühlt schneller vorwärts, jede Seite eine neue überraschende Wendung und dicke Bücher beendet schließlich jede*r gerne. Doch für die Leser*innen, die in den letzten 10 Jahren erwachsen geworden sind, die von dieser anspruchsvollen Geschichte der ehemals heißgeliebten Panem-Welt auch immer noch angesprochen werden können, ist die Aufmachung womöglich eher zu „jung“ und unhandlich. Und apropos Leser*innen, die erwachsen geworden sind und womöglich sensibler lesen als noch vor 10 Jahren: Die althergebrachte Verwendung des generischen Maskulinums in der Übersetzung kann dann auch mal frustrieren. Mag sein, dass die Übersetzer*innen auch nur einem vorgegebenen Codex folgen, wenn sie es verpassen, eine Doktorin, Professorin oder Friedenswächterin auch als solche zu benennen – doch dann muss dringend eine Analyse der Zielgruppe erfolgen, denn gerade der Jugend und den jungen Erwachsenen fällt es oft sehr viel leichter, zumindest den binären Sprachcode zu verwenden als manch älteren. Und eben diese junge Menschen lesen nicht einfach darüber hinweg, wenn ausschließlich die männliche Berufsform verwendet wird.
Abschließend hängt vielleicht noch die Frage in der Luft: Kann man „Die Tribute von Panem X“ lesen, ohne die Trilogie zu kennen? Bestimmt eröffnen sich nochmals neue Gedanken und Perspektiven, wenn man nach diesem Roman erneut die Trilogie liest, um sich mit dem alt gewordenen Snow zu beschäftigen oder auch Verknüpfungen zu Katniss und der weiteren Panem-Welt zu entdecken. Ganz unvorbereitet mit diesem Band die Panem-Reihe zu starten, lässt die Lesenden jedoch womöglich viel verpassen. Manches würde unerkannt bleiben und der Geschichte um Coriolanus viel Tiefe und Sinn nehmen. Suzanne Collins gelingt es mit diesem Roman noch mehr als in der Trilogie eine düstere Zukunft zu zeigen, Systemtreue zu hinterfragen und stellt viel deutlicher die Frage: Wer sind die Unabhängigen ohne die Abhängigen?