Die Nackten

Autor*in
Procházková, Iva
ISBN
978-3-7941-8081-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
264
Verlag
Gattung
Ort
Düsseldorf
Jahr
2008
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Im Zentrum des Buches stehen Episoden aus dem Leben von fünf Jugendlichen. Alle Protagonisten sind 17 Jahre alt, aber unglaublich unterschiedlich. Nur eines haben sie gemeinsam. Sie sind in einer Phase ihrer Entwicklung, die Pubertät genannt wird. Sie haben sich deshalb noch keinen Panzer zugelegt, um die scheinbar feindlichen Einflüsse in der Gesellschaft abzuwehren. Sie sind nackt und angreifbar. Das Buch zeigt, wie sie sich in dieser speziellen Situation behaupten oder auch scheitern.

Beurteilungstext

Wenn ein Jugendbuch in die Auswahlliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen wird, so ist die für die Autorinnen und Autoren Ausdruck besonderer Wertschätzung. Iva Procházková ist dies mit ihrem neuen Buch "Die Nackten" für die Auswahlliste 2009 gelungen. Das Buch hat den Preis am Ende nicht gewonnen. Aber es hätte es verdient.
Dem Rezensenten sind nicht viele Jugendbücher bekannt, die auf so vielen ver-schiedenen Ebenen beeindruckend gestalten.
Da sind zum einen sehr intensive Charakterstudien von fünf Jugendlichen. Jeder die-ser Protagonisten ist in irgendeiner Weise außergewöhnlich und typisch zugleich. Dies beginnt mit der hochbegabten Sylvia, die die Schule als nichts anderes als eine Einschränkung empfindet und ihr deshalb in langen Abschnitten fernbleibt. Die einzi-ge echte Erfüllung findet sie im Schwimmen. Dies betreibt sie exzessiv, und beson-ders gern in gefährlichen und ungezügelten Flüssen. Es ist klar, dass sie mit ihrer Haltung an den Normen der Gesellschaft rüttelt. Dies geschieht zum Beispiel, wenn sie ohne Scham nackt durch den Ort nach Hause läuft, weil Jugendliche ihre Klei-dung während des Badens entwendet haben. Dies geschieht aber auch an den ver-schiedenen Schulen, die sie besucht und von denen sie immer wieder verwiesen wird, weil sie sich nicht an die Regel der Anwesenheitspflicht hält, auch wenn ihre schulischen Leistungen trotzdem sehr gut sind. Sie hat Glück, weil die getrennt le-benden Eltern ihre Lebensweise akzeptieren. Aber trotzdem nötigt es Respekt ab, wie sie trotz vieler Anfeindungen selbstbewusst ihren Weg sucht.
Wesentlich unsicherer ist Niklas. Niklas wollte eigentlich besondere Filme machen, und er hat auch großes Talent dazu. Er kann diese Neigung aber nicht ausleben, weil er sich in Evita verliebt hat und glaubt, ihr nur nah sein zu können, wenn er sie in ihrer Leidenschaft für den Drogenkonsum begleitet. Er reflektiert diesen Konsum al-lerdings immer problematisch und versucht diesen zu reduzieren beziehungsweise zu beenden. Und er findet am Ende auch wieder in die Gesellschaft zurück, bevor er scheitert. Aber bis dahin durchlebt er unglaubliche Tiefen, die beeindruckend und nachvollziehbar dargestellt sind.
Ähnlich unsicher sind Filip und Robin. Die Gründe dafür sind aber sehr unterschied-lich. Filip sucht nach seinem Platz in der Welt, steht sich dabei aber immer wieder selbst im Wege, und dies vor allen Dingen, weil er die Welt auf eine besondere und intellektuelle Art und Weise betrachtet und kommentiert. Robin war eigentlich selbst-bewusst. Allerdings wurde er gerade während seiner ersten sexuellen Erfahrung ver-unsichert, als er die Reaktionen des Mädchens falsch beurteilt und deshalb der Ver-gewaltigung beschuldigt wird. Beide Jugendlichen können erst dann ihre Unsicher-heit ablegen, als sie der ersten wirklichen und erwiderten Liebe begegnen.
Den zwiespältigsten, gleichzeitig aber nachhaltigsten Eindruck hinterlässt allerdings die Gestaltung von Evita. Der Leser erfährt nicht viel von Evita, und vieles wird auch während der Begegnung mit ihr bewusst im Dunklen gelassen. Evita ist stark dro-genabhängig. Iva Procházková versucht nicht, die Gründe für diese Sucht verständ-lich zu machen. Sie stellt sie so dar, wie sie ist. Und so erlebt die Leserin oder der Leser aus der Perspektive von Evita, welch abstruse Sinnkonstruktionen sich im Zu-sammenhang einer Sucht bilden können. Wir erleben, wie sich das Zentrum des Le-bens um nichts anderes mehr aufbauen kann, wie sich alle menschlichen Gefühle nur noch auf das Verlangen nach der nächsten Spritze reduzieren. Wir sehen auch, wie diese Sucht soziales Miteinander oder auch Liebe unmöglich macht. Evita ist die einzige Figur, die mit ihrem Leben im Buch scheitert.
Die verschiedenen Episoden werden jeweils aus der Perspektive der Protagonisten erzählt. Dies ermöglicht einen direkten und ungebrochenen Blick in das Innere der Psyche. Die Gestaltung der Figuren wird deshalb besonders intensiv und eindrück-lich. Durch dieses Nebeneinander der verschiedenen Erzählstränge erlangt der Re-zipient zwar keine auktoriale Perspektive auf die Handlung, empfindet dies aber durch die verschiedenen personalen Perspektiven als Gewinn.
Doch damit nicht genug. Die Autorin stellt nicht nur die fünf Entwicklungen nebenein-ander dar. In meisterhafter Art und Weise sind die Handlungsstränge auch miteinan-der verknüpft. Diese Verknüpfung passiert allerdings nicht an zentraler Stelle, son-dern in scheinbar nebensächlichen Momenten. So begegnen sich die Protagonisten, ohne sich immer zu beeinflussen. An einigen Stellen werden diese oft zufälligen Be-gegnungen sogar aus unterschiedlicher Perspektive mehrfach erzählt. Durch diese besondere Art der Verknüpfung von Handlungssträngen, die eigentlich nichts mitein-ander zu tun haben, entsteht die besondere Dichte des Romans.
Und da ist noch die Geschichte, die Sylvia und Robin gemeinsam erleben. Sylvia findet einen herrenlosen Hund, den sie mit nach Hause nimmt. Die seltsamen Verhal-tensweisen des Tiers erklären sich erst, als sie erkennt, dass sie aus Versehen einen Kojoten aufgegriffen hat, der weder nach Deutschland noch in die geregelte Welt ei-ner Wohnung passt. Ganz bewusst entscheiden sich Sylvia und Robin, diesen Kojo-ten nicht den Behörden auszuliefern, sondern ihn im Wald frei zu lassen, auch wenn dadurch nicht klar ist, ob das Tier sich in diesen Gefahren behaupten kann. Mit die-ser scheinbar nebensächlichen Handlung gestaltet Procházková eine Metapher, die noch einmal das zentrale Problem der Jugendlichen aufgreift. Da ist auf der einen Seite die Erwartung der Erwachsenen, dass die Jugendlichen sich in eine Welt ein-ordnen, die nicht die ihre ist. Und da ist auf der anderen Seite das Verlangen der Ju-gendlichen nach eigenen Werten, auch wenn dies bedeutet, dass man sich dafür in große Gefahren begibt. Die Autorin enthält sich hier scheinbar einer eindeutigen Be-wertung. Aber eigentlich liefert sie doch eine Antwort, wenn sie auf der letzten Seite des Buches zeigt, dass der Kojote in der Freiheit offensichtlich wieder glücklich ge-worden ist.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von ns.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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