Der Tiger in meinem Herzen

Autor*in
McCormick, Patricia
ISBN
978-3-596-85580-3
Übersetzer*in
Illinger, Maren
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
256
Verlag
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Frankfurt
Jahr
2015
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Die Geschichte eines Jungen, der nach dem Sieg der Roten Khmer in Kampuchea eine vierjährige Schreckensherrschaft erlebt und überlebt.

Beurteilungstext

Am 17. April 1975 wurde mit der militärischen Eroberung Phnom Penh´s die Republik Demokratisches Kampuchea ausgerufen. Mit diesem Tag begann die totale Gewaltherrschaft einer kleinen Machtelite um die Führer der sogenannten Roten Khmer, Pol Pot, Ieng Sary und Khieu Samphan. Innerhalb von vier Jahren sollten sämtliche Klassenunterschiede beseitigt, sollte die landwirtschaftliche Produktion verdreifacht und eine „blühende kommunistische Gesellschaft“ errichtet werden. Die Einwohner Kampuchea´s wurden geteilt in gute und schlechte, in nützliche und nutzlose, in bäuerliche und bürgerliche Individuen. Die bürgerlichen waren konterrevolutionär und mussten beseitigt werden. Die Städte als Lebensraum der sogenannten Oberschicht wurden entvölkert und die Bauern zur Alleinherrschaft unter der Führung der sogenannten Angka, einer selbsternannten Geheimorganisation ernannt. In der Praxis wurden aber auch sie unter Anwendung brutalster Gewalt in ein Arbeitssystem gezwungen und mussten, beständig mit dem Tode bedroht, unterernährt, ohne jegliche medizinische und kulturelle Versorgung mit einfachsten Mitteln das Land bestellen. Wer eine Brille trug oder mit heller Haut und schmalen Hände auffiel, wurde als Angehöriger der entmachteten Oberschicht, als bürgerlicher Schädling denunziert und ermordet. Wer als gebildet auffiel oder Musik spielen konnte, wer überdies noch fremde Sprachen sprach, wurde ermordet. Wer alt war oder krank und nicht mehr arbeiten konnte, wurde ermordet. Wer Fragen stellte oder Kritik zu äußern wagte, wurde ermordet. 1,7 bis 2,2 Millionen Menschen, beinahe jeder dritte Einwohner des Landes verlor auf diese Weise sein Leben. Die gesamte soziale Struktur, gleich ob städtisch, dörflich oder familiär, wurde zerstört. Das Geld wurde abgeschafft, die Religionsausübung verboten. Krankenhäuser, Schulen und Tempel wurden zerstört, sämtliche Bücher verbrannt. Freie Partnerwahl galt als Verbrechen und wurde mit dem Tod bestraft. Um Gewehrkugeln zu sparen, wurde den zu Tötenden mit einer Axt der Schädel zertrümmert, Tag für Tag. Begräbnisse waren verboten; die Leichen der Ermordeten kamen auf sogenannte Müllhaufen, wo sie verrotteten. Kinder und Jugendliche wurden zu Soldaten und Mördern gemacht. Erst im Januar 1979 gelang es der vietnamesischen Armee, den Großteil des Landes zu befreien. Nur in der Grenzregion zu Thailand konnten die Reste der Roten Khmer mit offener Unterstützung durch die Volksrepublik China und nichtoffener durch die Geheimdienste einiger westlicher Staaten eine regional begrenzte Terrorherrschaft bis in das Jahr 1998 aufrechterhalten. So wurden sie unter anderem vom britischen Special Air Service im Umgang mit Landminen geschult. Durch eben diese Landminen kamen bis auf den heutigen Tag etwa 15% der kambodschanischen Bevölkerung zu Schaden.
Der Tiger in meinem Herzen erzählt die Geschichte eines Jungen, der im Alter von 11 Jahren den Einmarsch der Roten Khmer in Phnom Penh erlebt, mit seiner Familie aus der Stadt hinaus aufs Land getrieben wird, Tag für Tag die Leichen der Ermordeten, der an Erschöpfung Gestorbenen sieht und lernen muss, unter der Herrschaft derer zu leben, die töten, um nicht selbst getötet zu werden. In kurzen Episoden erfahren wir, wie es ihm gelingt, zu überleben und die Grenze nach Thailand zu überqueren, wo er in einem Krankenhaus wieder zu Kräften kommt, um schließlich durch die Hilfe eines engagierten, überaus gutherzigen Amerikaners die USA, das Land der Freiheit, zu erreichen, wo er vor überaus engagierten und gutherzigen Amerikanern über sein eigenes Leid und das der kambodschanischen Bevölkerung zu reden beginnt.
Die Autorin des Buches, Patricia McCormick hat über einen Zeitraum von zwei Jahren Hunderte von Stunden mit dem Ich-Erzähler Arn Chorn-Pond verbracht und seine Erlebnisse in eine Sprache gefasst, die das Grauen auch für junge Leserinnen und Leser bis an die Grenze des Erträglichen verstehbar, nachvollziehbar macht, wobei es ihr gelingt, Pathos und falsche Metaphorik zu vermeiden. Wir lesen eine Art Bericht, beinahe sachlich, beinahe nüchtern, beinahe alltäglich; so sachlich, nüchtern und alltäglich wie der Tod im Kampuchea der Roten Khmer.
„Du“, sagt einer der Roten Khmer zu mir. „Komm mit.“ Er nimmt mich mit in den Mangohain. Der Pfad ist staubig. Viele Füße sind schon diesen Pfad gegangen. Ich kann schon den Müllhaufen sehen. Drum herum steht hohes, sehr grünes Gras. Knochen ragen heraus, Beine, Arme, Schädel, Kleider. Ich sehe auch einen Graben. Davor eine Reihe Menschen, vielleicht fünfzehn, zwanzig, alle auf den Knien, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Einer der Anführer hinter ihnen. Er nimmt eine Axt, eine kleine Axt wie zum Holzhacken, und schlägt einem der knienden Männer auf den Hinterkopf. Der Mann fällt vornüber, wie ein Sack, es geht sehr schnell. Der Rote Khmer geht die Reihe entlang und erschlägt einen nach dem anderen. Ein schreckliches Geräusch, wie das Knacken einer Kokosnuss. Nur dass es der Kopf eines Menschen ist. „Du“, sagt er zu mir. „Wirf sie in den Graben.“ Ich will es nicht tun. Aber ich tue es. Meine Hände tun, was dieser Mann mir sagt. Ich schiebe die Körper, sie sind schwer und alles ist blutig, ich schiebe sie in ihr Grab. Ich tue es. Ein Mann ist noch nicht tot. Sie sagen, ich soll ihn trotzdem in den Graben werfen. Dieser Mann verflucht mich, verflucht mich aus der Tiefe. Der Mann mit der Axt sieht mich an. Sieht mir tief in die Augen. Um zu sehen, was ich fühle. Ich mache meinen Blick leer. Wenn du zeigst, was du fühlst, stirbst du. Wenn du nichts zeigst, überlebst du vielleicht. (S. 65/66).
Was die engagierten und gutherzigen Amerikaner betrifft: Ohne ihre Hilfe hätte Arn Chorn-Pond nicht überlebt, nicht die Sprache der sogenannten „freien“ Welt gelernt, nicht die Schule besucht und nie die Möglichkeit gehabt, in einer Kirche in New York City vor Tausenden von Zuhörinnen und Zuhörern, vor Vertretern der Presse und vor Berühmtheiten des öffentlichen Lebens zu sprechen. Er spricht und weint, zum ersten Mal seit seiner Verschleppung aus Phnom Penh. Er spricht und weint und alle weinen mit. Tausende. Und endlich löst sich auch der Hass, der Tiger in seinem Herzen, löst sich in den eigenen Tränen und in den Tränen seiner Zuhörer. Das ist ergreifend schön, ist christlich gut, ist tröstlich und verschafft uns die Erleichterung, die wir als Leser am Ende eines solchen Buches brauchen. Es ist zugleich auch eine Lüge. Geht doch in den Tränen der Betroffenheit, in den Tränen nicht des Leids, wohl aber des inszenierten Mitleids die Tatsache unter, dass die amerikanische Regierung unter Richard Nixon und Henry Kissinger es war, die die Spirale der Gewalt in Indochina erst richtig in Gang gebracht hat, also Verantwortung trägt auch für den Tod der hier Beweinten.
Am 18. März 1970 wurde der Armeegeneral Lon Nol durch einen von den USA unterstützten Putsch an die Macht gebracht und erhielt von den USA umfangreiche Wirtschafts- und Militärhilfe. Mit seiner Billigung versuchten Richard Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger, Kambodscha von der FNL (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams) militärisch zu säubern. Indem sie den Krieg gegen das kommunistische Nordvietnam und den südvietnamesischen Vietkong auf kambodschanischen Boden ausdehnten, opferten die USA die Integrität des letzten unabhängigen Staates Indochinas. Ihre Flächenbombardements forderten mindestens 200.000 Menschenleben, vornehmlich unter Zivilisten, und trugen dazu bei, einen großen Teil der Bevölkerung in die Arme der Roten Khmer zu treiben (nach Wikipedia - Rote Khmer). Die Welt, insbesondere die westliche, ist so frei, ihre Fehler und Verbrechen zu vergessen. Wir wissen auch, warum.

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Diese Rezension wurde verfasst von bf.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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