Der rote Baum

Autor*in
Tan, Shaun
ISBN
978-3-551-51778-4
Übersetzer*in
Schönfeld, Elke
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Tan, Shaun
Seitenanzahl
32
Verlag
Carlsen
Gattung
BilderbuchSachliteratur
Ort
Hamburg
Jahr
2012
Lesealter
4-5 Jahre6-7 Jahre8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein Mädchen fasst beim Aufwachen den kommenden Tag ins Auge und macht dabei mehrere Phasen der Mutlosigkeit durch. Erst auf der letzten Seite erblüht der kommende Tag wie eine hoffnungsvolle rote Blume für sie.
Ästhetisch hervorragend, erfordert aber intensive Vermittlung

Beurteilungstext

Äußere Form/Verhältnis Text - Bild
Das vorliegende Buch spricht vor allem mit seinen eindrucksvollen Bildern zum Rezipienten; der Text beschränkt sich auf je einen kurzen Satz oder sogar nur Halbsatz auf jeder Doppelseite.
So kann sich der Betrachter unabgelenkt und in Ruhe auf die Wahrnehmung der großformatigen Bilder konzentrieren. Das ist auch nötig; denn sie sind anspruchsvoll, und ihr Sinn entfaltet sich nur langsam. Auf einigen Bildern kann der Betrachter in detailgenau geschilderte Räume einsteigen, in ihnen verweilen und herumstreifen und sich in ihnen verlieren und in der Fülle immer neue Einzelheiten entdecken.
Die Farbe wurde in kurzen Pinselstrichen in schillernden Abtönungen aufgetragen, so dass die Fläche zu atmen scheint.
Die Druckbuchstaben des sparsamen Textes passen sich in wechselnder Größe dem Inhalt an.

Inhalt
Vom Inhalt her geht es um ein Mädchen, das beim Aufwachen den kommenden Tag ins Auge fasst und dabei mehrere Phasen der Mutlosigkeit durchmacht. In düsteren surrealen Bildern geht es durch Stationen der Depression, die sich von Langeweile, emotionaler Einsamkeit über Hoffnungslosigkeit, Selbstzweifel, Verunsicherung, Zukunftsangst und Sinnlosigkeit zu einer Verzweiflung von wahrhaft kosmischen Ausmaßen steigern. Erst am Ende gibt es eine positive Auflösung. Auf der letzten Seite eröffnet sich für sie ein neuer Blick auf die Versprechungen des Lebens, erblüht ihr der kommende Tag wie eine hoffnungsvolle rote Blume. Die Botschaft lautet, dass jeder psychische dunkle Tunnel auch wieder ein Ende hat.

"Manchmal beginnt der Tag ohne Aussicht auf etwas Schönes."
Das Mädchen sitzt am Morgen im Bett; im Raum fliegen Ahornblätter umher, die den Raum bald bis in Hüfthöhe auffüllen.
"Dunkelheit senkt sich herab"
Das Mädchen verlässt den Raum und geht auf die Straße. Im Raum zwischen den hohen Häusern zu beiden Seiten schwimmt ein gewaltiger Riesenfisch heran, dessen Schatten sich bedrohlich auf das Mädchen senkt, während die Passanten keine Notiz davon nehmen.
"Keiner versteht dich."
Das Mädchen sitzt mit einem Taucherhelm auf dem Kopf in einer verkorkten Flasche, die - wie die Bewegungsstriche andeuten - eben an den steinigen Meeresstrand geworfen wurde.
"Die Welt ist eine taube Maschine."
Das Mädchen steht in der abendlich düsteren von Fackeln erleuchteten Eingangshalle des Empire State Building. Um sie herum stehen viele vereinzelt wirkende andere Kinder mit hängenden Köpfen, während das Mädchen auf seiner Brust ein Türchen öffnet, in dem eine Glühlampe leuchtet.

Auf der nächsten textlosen Doppelseite liegt auf einem Grund aus Zeitungspapier ein Bild von einer Stadt, deren Hochhäuser aus dem Papier von Zeitungen, Briefen und Statistiken ausgeschnitten und gelb und rot eingefärbt wurden. Mehrere Flugzeuge bewegen sich im Luftraum dazwischen, fünf Uhren zeigen die Uhrzeiten ihrer Zielorte an. Einige Hochhäuser verwandeln sich an ihrer Spitze in gezähnte Riesenmäuler, die Wolken ausstoßen. Auf der linken Seite türmen sich viele Roboter übereinander, von denen drei aus ihren Mäulern Zettel mit Buchstaben ausstoßen. Auf einigen Zetteln sind die Wörter "Planner", "Reading", "Words", "Way", "You" und "ohne Sinn und Verstand" zu lesen. Der Zettelstrom fällt zwischen den Flugzeugen zwischen die Häuser nieder. An die Fensteröffnungen einiger Häuser sind Leitern angelegt. Unten steigt das Mädchen eine von diesen Leitern hinauf.

Die folgende Doppelseite zeigt eine Serie von 8 Einzelbildern, auf denen die Kamera sich immer weiter aus dem Bild herauszoomt und das endlose Strichkolonnen schreibende Mädchen schließlich auf dem Rücken einer Schnecke zeigt, die in einer vegetationslosen Ebene nach immer enger werdenden Kreisen schließlich auf nur einem Punkt endet. Die immer kleiner werdende Unterschrift lautet: "Manchmal wartest du und wartest, und wartest…., aber nichts geschieht."

"Dann kommen alle Probleme auf einmal."
Mehrere graue kantige Schiffsrümpfe und Riesenschiffsschornsteine scheinen in aufschießenden Wasserstrudeln unterzugehen. Dazwischen in einem winzigen roten Boot das Mädchen, das verängstigt über den Bootsrand schaut.
"Schöne Dinge gehen an dir vorbei".
Das Mädchen schaut sehnsuchtsvoll aus einem Fenster, das mit einem Vorhängeschloss verschlossen ist. In den Scheiben spiegeln sich die sich draußen auftürmenden weißen Wolkengebirge, Symbole für Natur und Freiheit. Davor fliegt ein vogel-schmetterlingshaftes Fluggefährt vorbei und zieht Flatterbänder hinter sich her, gefolgt von Schwärmen von roten und gelben Schmetterlingen.
"Schreckliche Schicksale sind unausweichlich."
Das Mädchen geht auf einem Plattenweg durch einen Wald aus langen altenglischen Wohnhausschornsteinen mit aufgesetzten Röhren. Am Ende des Weges lauert am Horizont ein Ungeheuer aus Technikteilen. Das Mädchen trägt einen großen Würfel, offensichtlich, um auf den Spielfeldern zu setzen, die als Rahmen um das ganze Bild herum laufen. Auf den Feldern sind Buchstaben und Zeichen und meist unerfreuliche Tiere abgebildet. Positiv ins Auge fällt nur das rote Ahornblatt.
"Manchmal weißt du gar nicht, was du tun sollst."
Das Mädchen steht als Zauberin verkleidet im Rampenlicht auf einer Bühne zusammen mit seltsamen Wesen, die der Welt von Hieronymmus Bosch entsprungen zu sein scheinen.
"Oder wer du nun sein sollst."
Das Mädchen steht vor einer Wand und malt ein Bild von sich selbst darauf auf der Suche nach sich selbst.
"Oder wo du bist."
Inmitten einer Landschaft von sich unnatürlich kugelig wölbenden Hügeln, in denen sich maulhafte Eingänge öffnen, sitzt winzig klein und verloren das Mädchen.
"Und der Tag scheint genauso zu enden, wie er begonnen hat, aber dann ist er plötzlich direkt vor dir, hell und leuchtend ruhig wartet er."
Das Mädchen schaut von außen durch die Tür in das dunkle Schlafzimmer und sieht im hellen Lichtstreifen des Türspalts eine rote Blume auf dem Fußboden stehen.
"Genauso, wie du es dir vorgestellt hast."
Sie nähert sich der Blume und sieht, wie sie sich groß und wundervoll entfaltet.

Gemütszustände
Eigentlich geht es nicht um eine lineare Erzählung, sondern jedes Bild breitet für sich das Panorama eines Gemütszustandes aus.
Die Bilder vermitteln bis kurz vor dem Ende die starken Gefühle von Angst vor den Herausforderungen des kommenden Tages, beklemmende Beunruhigung und Verunsicherung, Bestürzung angesichts der befürchtete Begegnung mit fremdartigen, unerklärlichen, unverstandenen Phänomenen, mit Gefühlen der Enttäuschung, der Ausgesetztheit, der Einsamkeit und des unverstanden Seins. Viele Bilder wirken düster und bedrohlich.

Metaphorik
Diese Gemütszustände setzt Tan in Metaphorik um. Für die Unverstandenheit und das Gefühl des ausgesetzt Seins steht das Bild von dem Mädchen, das gefangen in einer Glasflache an einem steinigen Strand vom Meer ausgeworfen wurde; für die Angst, dem Kommenden nicht gewachsen zu sein, das Bild von dem Meeresstrudel, in den sie mit kleinen und großen Dampfern zusammen hinein gerissen wird. Für das Gefühl der Sinnlosigkeit das Bild der völlig textlosen Doppelseite in der Mitte des Buches: eine Stadt, in deren Gewirr von Bürohäusern immer wieder Buchstaben, Schrifttafeln und Notizzettel herum fliegen.
Nur das kleine rote Blatt, das sich auf jeder Seite versteckt, ist ein stiller Hinweis auf ein hoffnungsvolles Ende.
Diese parabelhafte offene Erzählweise präsentiert Bilder, die keine sofortige und eindeutige Erklärung anbieten, sondern viele individuelle intuitive Interpretationen zulassen. Tans Illustrationen setzen in jedem Kopf etwas anderes in Gang. Die Betrachter können sowohl eine psychologische, eine philosophische als auch eine gesellschafts- oder zivilisationskritische Botschaft heraus lesen. Damit wird die erzählte Geschichte übertragbar und allgemeingültig.

Wir Erwachsenen haben vergessen, wie einsam und unverstanden Kinder sich fühlen, wenn ihre Eltern sich allzu schnell wieder den eigenen Interessen zuwenden, oder wie eine neue Umgebung wie eine neue Schule als fremdartige Anderswelt erlebt wird, in der man sich nirgendwo zugehörig fühlt. Die betrachtenden Kinder kennen diese düsteren Momente. Durch den positiven Schluss sollen sie sich getröstet und ermutigt fühlen.

Das Medium, mit dem Tan seine kindlichen Betrachter jenseits der Sprache erreicht, mit dem er seine Botschaften transportiert, ist der Surrealismus seiner Bilder. In die Normalität des realistisch gezeichneten Schlafzimmers bricht unversehens die Phantastik kafkaesker Situationen herein. Sonderbare Tiere mit skurrilen Eigenschaften - z. B. das Sehnsuchtsgefährt als Mischwesen aus Schmetterling und fliegendem Fisch - verbildlichen Emotionen ohne den Umweg über den rationalen Gedanken.

So ist diese Phantastik bei aller Bedrohlichkeit auch ein Spiel voller Poesie zwischen Traum und Albtraum. Aber Tans Phantastik ist nicht wie die Fantasy Flucht und Evasion aus der Realität, sondern bezieht sich auf die Realität und kommentiert sie.

Zielgruppe
Man fragt sich, ob dies ein Bilderbuch für Kinder ist. Aber obwohl die Bilder komplex und detailliert sind, können Fünfjährige sie mit der Hilfe von Vermittlern "lesen". Denn an der Oberfläche sind sie einfach zu verstehen. Der tiefere Sinn wird sich allerdings erst älteren Kindern erschließen, und erst Erwachsene können die philosophischen Hintergründe und ästhetischen Zitate voll ausschöpfen. .

Genre
Es handelt sich also um ein Bilderbuch mit Doppeladressierung, ein weiteres Beispiel für das sich zur Zeit entwickelnde Genre der "graphic novel". Der Carlsen-Verlag, der Verlag des anspruchsvollen Comics, ist hierfür die richtige Adresse,

Zum Illustrator und Autor
Tans ungeheure Kreativität auch in der von ihm selbst gestalteten Buchaustattung macht seine Bücher zu Kunstobjekten, die von bibliophilen Sammlern geschätzt werden.
Aber auch in den Bildern selbst stellen sich Querverbindungen zur großen Bildenden Kunst her. Es gibt Hinweise auf Hieronymus Bosch, Paul Klee, Hopper und Hockney, ebenso wie auf den "Roi Ubu" der französichen Surrealisten oder auf die Filme des Expressionismus.

Tan versteht seine Werke nicht ausgesprochen als Kinderbücher, sondern als visuelle und erzählerische Experimente, in die er auch die Gestaltung der Typographie einbezieht. Je nachdem, welche Themen er illustriert, wählt er eine entsprechende künstlerische Technik. So unterscheiden sich seine Bücher in der Machart. Sogar innerhalb des vorliegenden Bilderbuches wechselt er die Technik: die textlose Doppelseite von der Großstadt mit ihrem sinnlosen Treiben ist eine Montage aus ausgeschnittenem Zeitungspapier.
Der experimentelle Charakter des großformatigen Bilderbuches äußert sich schon darin, dass es kein Titelblatt gibt, sondern den Betrachter mit zwei surrealistischen Bildern empfängt, auf denen ein Mädchen in einer weiten welligen Graslandschaft auf einem Hocker steht und aus einem Megaphon Buchstaben bläst, deren Strom sich über den Rand hinaus auf die nächsten zwei Seiten ausbreitet. Dort steht in dieser nun vergilbt und trocken aussehenden Graslandlandschaft eine Standuhr, deren Kuckuck auf den Boden geflogen ist und dort einen der Buchstaben anpickt. Die Ziffern der Uhr werden von Ahornblättern gebildet.

Tan wurde 1974 in Australien geboren als Sohn eines aus Malaysia eingewanderten Chinesen und einer Australierin und wurde in seiner Jugend immer wieder mit Ausgrenzung konfrontiert. Deswegen kreisen seine Bücher um Themen wie Fremdheit, sich ausgeschlossen Fühlen und Traurigkeit.
Schon vor seinem Studium der Kunstgeschichte und Literatur bekam er als Jugendlicher Aufträge, Science Fiction und Fantasy zu illustrieren. Später wirkte er an der Produktion von Animationsfilmen mit. Die Kenntnis der filmischen erzählenden Mittel zeigt sich im vorliegenden Bilderbuch "Der rote Baum" in der eingeschobenen Sequenz von acht kleinen Bildern zum Text "manchmal wartest du und wartest und wartest …", die sich von der Spitze eines die vergehenden Tage abstrichelnden Bleistifts bis zum Blick aus dem Weltall auf das nicht mehr erkennbare Mädchen auf der Weltkugel heraus zoomt.

Auszeichnungen
Shaun Tan erhielt 2009 den Deutschen Jugendliteraturpreis für sein Buch "Geschichten aus der Vorstadt des Universums", 2011 den Oscar in der Kategorie "animierter Kurzfilm" für die Verfilmung seines Bilderbuches "Die Fundsache" und 2011 den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis, der als Nobelpreis der Jugendliteratur gilt.

Einsatz im Unterricht
Das vorliegende Buch lässt sich bei sorgfältiger Begleitung von 5 Jahren an bis zur Sekundarstufe einsetzen.
Man beginnt mit langer intensiver gemeinsamer Betrachtung und mündlicher Beschreibung der sehr narrativen Bilder, die jeweils auf einer Doppelseite einen neuen geschlossenen surrealen Kosmos eröffnen. Damit wird die Aufmerksamkeit für den Bildanteil eines Buches gefördert, das genaue Hinsehen, die Verlangsamung der Wahrnehmung. Das Sprechen darüber übt die Artikulation von diffus empfundenen Emotionen ein. Daran schließen sich Vermutungen über die Bedeutung der Bilder und ihrer Details an, die sich zu philosophischen Gedankenspielen weiten können.
Es können Geschichten erfunden und in Text und Bild und Rollenspiel gestaltet werden, die in Tans surrealen Welten spielen. Es können sogar eigene Phantasiewelten erschaffen werden.
Die über lange Strecken sehr düstere Atmosphäre, denen die Protagonistin ohne Helfergestalten an der Seite ausgesetzt ist, muss von den Rezipienten ausgehalten werden.
Die Phasen des Zweifelns am Lebenssinn und an sich selbst treten meist erst in der Pubertät ein. In dieser Zeit könnte das Buch Ausgangspunkt für fruchtbare Gespräche sein.
Die streckenweise Zivilisationskritik ist wohl erst von den erwachsenen Vermittlern nachvollziehbar.
Bei Grundschülern könnte man mit einzelnen ausgewählten Bildseiten arbeiten, um ihnen Gelegenheit zu geben, die bei ihnen auch vorhandenen Erfahrungen von Langeweile und Einsamkeit zu verbalisieren.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gsd.
Veröffentlicht am 01.01.2010

Weitere Rezensionen zu Büchern von Tan, Shaun

Tan, Shaun

Geschichten aus der Vorstadt des Universums

Weiterlesen
Tan, Shaun

Die Fundsache

Weiterlesen
Tan, Shaun

Die Fundsache

Weiterlesen
Tan, Shaun

Geschichten aus der Vorstadt des Universums

Weiterlesen
Tan, Shaun

Zikade

Weiterlesen
Tan, Shaun

Geschichten aus der Vorstadt des Universums

Weiterlesen