Der Junge, der Gedanken lesen konnte

Autor*in
Boie, Kirsten
ISBN
978-3-8415-0347-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Kehn, Regina
Seitenanzahl
320
Verlag
Oetinger
Gattung
Erzählung/RomanKrimi
Ort
Hamburg
Jahr
2015
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
8,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

In seinem neuen Wohnort erkundet der 10-jährige Valentin erstmals in seinem Leben einen Friedhof. Dort schließt er Bekanntschaften mit Besuchern und Angestellten, die sehr unterschiedlich mit der “Würde des Ortes” umgehen. Der Friedhof wird sogar zu einer Stätte von Verbrechen, die Valentin, der manchmal die Gedanken anderer lesen kann, und sein gleichaltriger neuer Freund Mesut als heimliche Detektive aufklären helfen.

Beurteilungstext

Titel und Untertitel signalisieren einen spannenden Krimi für Kinder, ist doch ein Friedhof häufig ein mystischer, grusliger Handlungsort, und einen Jungen, der Gedanken lesen kann, gibt es den wirklich?
Die sich während weniger Ferientage überstürzenden abenteuerlichen Ereignisse werden aus dem subjektiven Blickwinkel Valentins unmittelbar, lebendig und glaubwürdig erzählt. Die Tatsache, dass er manchmal in fremde Köpfe gucken kann, bleibt sein Geheimnis. “Wenn man so was erzählt, wird man doch nur für verrückt gehalten! Da nimmt einen doch keiner mehr ernst.” (S. 241) In allen 50 episodenhaft erzählten Kapiteln leisten die Jungen “echte Detektivarbeit”. Sie ermitteln in den Kriminalfällen “Dicke Frau/ Golddollar”, “Bronislaw/Beule”, Juwelenraub/ Gentleman - Räuber” und entlarven einen Friedhofsräuber und seinen Hehler. Die Krimihandlung durchzieht das Kinderbuch zwar wie ein roter Faden als interessanter Plot zum Mitraten, aber sie dominiert es nicht ausschließlich. Kirsten Boje thematisiert gleichzeitig den generationsübergreifenden Umgang mit Trauer, Tod und Sterben sehr sensibel unter Verwendung einer humorvollen Erzählweise und Figurengestaltung.
Die Schilinskis nutzen ihre schon zu Lebzeiten gekaufte Grabstätte als kleinen Schrebergarten - ausgestattet mit zwei Campingstühlen, bepflanzt mit Küchenkräutern zwischen Rosen und Lilien, versorgt Frau Schilinski dort “ eine nette Runde” mit Getränken, Käsebroten und Salaten aus der Kühltasche. Der polnische Friedhofsgärtner Bronislaw freut sich auf sein Bierchen; und “dicke Frau “, die seit dem Tod ihres 12-jährigen Sohnes verwahrlost auf der Straße lebt, im Alkohol das Vergessen sucht und “etwas muddelig” im Kopf ist, erhält ihr “Seelentrösterchen”. Lange Gespräche führt Valentin mit dem alten Herrn Schmidt, der seiner Frau Else, die mit 89 Jahren verstorben ist, bald ins Jenseits folgen möchte: “Ein jedes Ding hat seine Zeit, aber wenn ein Kind stirbt vor der Mutter...” (S.73) “Aber vielleicht ist es da, wo man hinterher ist, sogar schöner als hier. “ S. (257)
Die Autorin versetzt Valentin in die Rolle eines nachdenklichen Ich - Erzählers, der seine Erlebnisse altersgemäß pointiert reflektiert. Nicht nur Kinder, sondern auch jugendliche und erwachsene Leser werden dabei hintergründig angeregt, sich mit ethischen und moralischen Fragen wertorientiert auseinanderzusetzen.
Valentin und sein Freund sind gut sozialisierte Migrantenkinder, die schon einige Zeit in Deutschland leben. Valentins Mutter arbeitet als Marktleiterin in einem “Topp -Preis -Dromarkt”, Mesuts großer Bruder Ahmed ist sogar bei bei der Polizei. Valentins Gedanken sind oft beim verstorbenen älteren Bruder Artjom, an dessen Unfalltod er sich schuldig fühlt. Beide Jungen bleiben in ihrer alten Heimat verwurzelt. Mesut bedauert, dass sich die Großfamilie in den Ferien vielleicht nie mehr in Anatolien treffen wird, denn dort ist gerade die Uroma verstorben. Valentin leidet unter der Trennung von seiner Familie, denn sein Vater ist bei den Großeltern im Kaukasus geblieben - und bei Artjom, dort beerdigt ist.
Die Herkunft der befreundeten Jungen aus unterschiedlichen Kulturkreisen wird besonders deutlich am Erlebnis der Beerdigung von Herrn Schmidt - Trauergottesdienst, Trauerzug und Grablegung lösen unterschiedliche Empfindungen aus. Valentin unter Tränen: “Man kann einen Menschen doch nicht einfach so in die Erde legen.” Mesut kommentiert aus muslimischer Sicht : “Mann, Alter, so in die Kiste!. Ich will mich ja nicht einmischen, aber die Vorschriften sind anders... Ins Paradies kommt er so nicht.” (S. 262)
Herr Schmidt hinterlässt dem “kleinen Russen” seinen Hund Foxi zur Pflege und einen Abschiedsbrief, der die Leser abschließend noch einmal zum Nachdenken über die Intensionen dieses Kinderbuches anregt. (S. 311 f.) Nachdenklich stimmen auch die 15 ganzseitigen Schwarz - Weiß- Bilder, denn sie erzählen die Handlung einfühlsam mit. Sie stehen vor oder nach Schlüsselszenen als Ausblick oder Zusammenfassung. Sie zeigen die Figuren in ihrer wechselnden Umgebung und setzen diese durch ihre Körpersprache zueinander in Beziehung. Der “Friedhofskrimi” erfordert und befördert das literarische Lesen. Das Kinderbuch liegt auch in einer Hardcover - Ausgabe von 2012 und als Audio CD vor. In Kombination von Buch und Hörbuch, das eindrucksvoll von einem Jungen vorgelesen wird , könnte es in der Sekundarstufe I zur Klassenlektüre werden.
Die Lektüre , gleich ob gelesen oder gehört, ist vom Genre her weder reiner Krimi, noch Detektivgeschichte, sondern ein problemorientiertes Buch für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, das den Dialog zwischen den Generationen über existentielle Fragen befördert.




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Diese Rezension wurde verfasst von Kra.
Veröffentlicht am 18.09.2023