Der Buchhalter von Auschwitz: Die Schuld des Oskar Grüning

Autor*in
Engelmann, Reiner
ISBN
978-3-570-31293-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
224
Verlag
Gattung
SachliteraturTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2019
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
8,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Oskar Gröning ist 21 Jahre alt, als er 1942 in Auschwitz seinen Dienst als Verwalter der materiellen Güter der Häftlinge antritt. Er ist 93 Jahre alt, als er 2015 vor Gericht steht. Ihm wird Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen vorgeworfen; Mord an Juden aus Ungarn, die im Sommer 1944 in Auschwitz vergast wurden. Buchautor Reiner Engelmann berichtet über diesen Fall. „Der Buchhalter von Auschwitz: Die Schuld des Oskar Gröning“ ist dabei Prozessbericht und Lebensbericht zugleich.

Beurteilungstext

Reiner Engelmann ist Sozialpädagoge und Lehrer und organisiert seit vielen Jahren Studienfahrten nach Auschwitz. Nachdem er bereits mehrere Bücher über die Opfer des NS-Regimes veröffentlichte (siehe dazu: „Wir haben das KZ überlebt – Zeitzeugen berichten“), nimmt er mit dem 2018 erschienenen „Der Buchhalter von Auschwitz“ erstmals einen Täter genau in den Blick. Gröning ist bereits seit den 80er Jahren eine öffentliche Person, als er beginnt, schriftlich und mit großem Interesse der Presse gegen die immer noch zahlreichen Auschwitz-Leugner zu argumentieren. Er muss es doch wissen, er ist dort gewesen und kann die hunderttausend Morde bezeugen. Gröning wird als Zeuge zu mehreren Strafprozessen gegen bekannte Mitoffiziere in Auschwitz geladen; er gibt in der BBC Interviews zu diesem Thema. In dieser Zeit erhält er von den Journalisten auch den Namen „Der Buchhalter von Auschwitz“.

Gröning fühlt sich dabei sicher, juristisch nicht mehr belangt werden zu können. In einem Prozess 1978 ist er bereits einmal angeklagt worden, die Anklage ist aber dabei irgendwann im Sande verlaufen. Denn er war ja in einer anderen Abteilung tätig, für die Verwaltung des Geldes der Häftlinge zuständig, hatte selbst nichts mit dem unmittelbaren Töten zu tun. So argumentierten Gröning und auch die Staatsanwaltschaft damals. Doch wo fängt Schuld an? Diese Frage beschäftigt die verantwortlichen Gerichte, beschäftigt Reiner Engelmann und auch damit uns Leser im Folgenden immer wieder. Gröning bezeichnet sich in einem Interview als „Rädchen im Getriebe“. Gleichzeitig berichtet Engelmann über ihn: „Dass in Auschwitz Menschen starben, fand er normal. Deutschland sei im Krieg und im Krieg werde nun mal gestorben. So war seine Einstellung.“ (S. 13)

„Der Buchhalter von Auschwitz“ ist auch eine Abbildung davon, wie sich die juristische Sicht auf Beihilfe bei Kriegsverbrechen verändert. Durch eine Feststellung der Staatsanwaltschaft Hannover werden die Verbrechen von Auschwitz erstmals anders bewertet: Für die Beurteilung der Strafbarkeit kommt es nicht darauf an, ob man sich durch Tätigkeit unmittelbar an Tötung beteiligt hat. Auschwitz als Ganzes muss als „Mordfabrik“ gesehen werden und jeder, der dort Dienst hatte, unabhängig von seiner konkreten Funktion, hat damit einen Beitrag zum Funktionieren des Apparates geleistet. Gröning also hat durch seine Tätigkeit den reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschinerie mit gewährleistet. Am 21. April 2015 beginnt der Prozess gegen ihn.

Engelmann integriert in der ihm üblichen Weise auch in „Der Buchhalter von Auschwitz“ vielfältige Teilstücke, die sich unter prägnanten Kapitelüberschriften zu einem bemerkenswert spannend lesbaren Ganzen zusammenfügen. Einmal ist es ein Prozessbericht, in Prosaform umgeschrieben. Gleichzeitig ist es auch der Lebensbericht der Beteiligten – Engelmann lässt dabei verschiedene am Prozess beteiligte Personen zu Wort kommen und taucht in ihre Erinnerungen ein: in die des Täters Gröning selbst natürlich; aber auch immer wieder in die der Opfer, der Zeugen im Prozess, wie zum Beispiel der ungarischen Jüdin Eva Fahidi. Fotos aus Auschwitz ergänzen das Geschehen. Des Weiteren benennt er die Sachverständigen; Wissenschaftler, die die Sachverhalte im Prozess vor Gericht beurteilten und einschätzten. Auch deren Ausführungen werden wiedergegeben. Ein umfangreiches Glossar mit wichtigen Begriffen und ein Namensverzeichnis der erwähnten „Täter“ mit kurzer Beschreibung zu Leben und politischem Wirken sowie ihren Straftaten schließen das Buch ab.

„Wer einmal einem Zeitzeugen zuhört, wird selbst zum Zeitzeugen“, so schreibt Engelmann in seinem Nachwort. Heute, da es immer weniger direkte Zeitzeugen des Holocaust gibt, ist es umso wichtiger, neue Möglichkeiten der Weitergabe der Ereignisse dieser Zeit zu finden, damit die Erinnerungen nicht verwischen, verloren gehen oder verfälscht und missbraucht werden können. Dieses Buch ist eine solche Möglichkeit, eine Art literarischer Zeitzeuge. Detailliert und sachlich, dabei gleichzeitig spannend, muss es der Zielgruppe der Jugendlichen ab 13 Jahren unbedingt empfohlen werden. Die Jugendlichen erkennen: das alles ist zwar lange her, aber tatsächlich so geschehen. Alle Beteiligten existierten, Gröning selbst ist auf dem Buchcover abgebildet, jung und in SS-Uniform; und was damals geschah, wirkt bis heute nach. Die Frage nach der Schuld, egal ob es um die Vergangenheit geht oder auch die eigene aktuelle politische Positionierung, kann und muss immer wieder neu zur Diskussion stehen. Ein Einsatz des Buches im Unterricht ist daher in vielerlei Hinsicht ein Gewinn. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass das alles für uns Leser oft auch emotional sehr anstrengend wird. Engelmann schildert zwischendurch immer wieder Szenen aus dem Leben und Sterben in Auschwitz, den alltäglichen Schrecken, als sei er selbst dabei gewesen. Wir Leser sind jetzt selbst dabei. „Die Türen wurden aufgerissen, die Menschen in den Waggons schützten ihre Augen mit den Händen vor den hellen Sonnenstrahlen. […] Die Menschen in den Waggons waren nach den drei Tagen Fahrt mit ungewissem Ziel hungrig, durstig und entkräftet. Wo waren sie? Was passierte hier? Was war das für ein Geruch, der ihnen entgegenschlug?“ (S. 86) Der Geruch, so wissen wir bereits, stammt von den Leichenverbrennungen, die teilweise offen auf den Feldern hinter Auschwitz-Birkenau stattfanden. Auf Seite 48 ist ein Foto einer solchen Verbrennung abgedruckt.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von SJ; Landesstelle: Thüringen.
Veröffentlicht am 27.12.2019

Weitere Rezensionen zu Büchern von Engelmann, Reiner

Engelmann, Reiner; Freund, Claudia

Stell dir vor, es wäre Frieden

Weiterlesen
Engelmann, Reiner

Der Buchhalter von Auschwitz

Weiterlesen
Engelmann, Reiner

Ich bin Jude - Euer Antisemitismus ist mein Alltag

Weiterlesen
Engelmann, Reiner

Ich bin Jude. Euer Antisemitismus ist mein Alltag

Weiterlesen
Engelmann, Reiner; Freund, Claudia

Stell dir vor, es wäre Frieden

Weiterlesen
Engelmann, Reiner

Doch meine Seele hat Narben. Wie Niusia Horowitz dank Oskar Schindler den Holocaust überlebte

Weiterlesen