Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S.

Autor*in
Simon, Jana
ISBN
978-3-499-23458-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
256
Verlag
Rowohlt
Gattung
Krimi
Ort
Reinbek
Jahr
2003
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
8,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Jana Simon erzählt die Biographie ihres ersten Freundes, Felix, der wie sie selbst zur Generation der Wendekinder gehörte: Aufgewachsen in Ostberlin sehen sie sich Ende der 80er-Jahre mehr und mehr mit einer Welt konfrontiert, die sich im Umbruch befindet und in der jeder seinen eigenen Weg finden muss. Felix, der selbst voller Widersprüche ist, gerät in die Türsteher-, Hooligan- und Drogendealerszene und findet schließlich einen tragischen Ausweg aus einer Welt, die ihm keine Orientierung mehr bieten kann.

Beurteilungstext

"Felix mochte es, der Helfer zu sein, es gab ihm ein gutes Gefühl: das Gefühl, gebraucht zu werden und dabei zugleich unerreichbar, unantastbar zu bleiben. Er selbst verstummte dabei immer mehr."
Felix S. hat sich im August 2001 in einer Gefängniszelle in Moabit erhängt. Wie kam es dazu? Sein Selbstmord wirft Verunsicherung und Fragen auf, Fragen, die Jana Simon, die Felix seit ihrer Kindheit kannte, beantworten will und die sie, von Beruf Journalistin, seinen Freunden, Geliebten und Verwandten stellt.
Eine Art literarisches Vermächtnis scheint es zu sein, was Jana Simon mit ihrem Debütroman, der kein fiktiver Roman ist, vielmehr eine Reportage über ein einzelnes Schicksal darstellt, liefert. Es ist der Versuch, ein Leben nachzuzeichnen, das durch die äußeren Umstände einer Jugend in Ostberlin und den verwirrenden Geschehnissen, die die Wende begleiteten, geprägt ist.
Die Autorin verbirgt ihre narrative Präsenz hinter dem weiblichen Personalpronomen der dritten Person, konsequent vermeidet sie eine Erwähnung ihres Namens. Konstruierte Distanz und zugleich ein Höchstmaß an Authentizität durch wiederholte Anspielungen auf den Dokumentarcharakter des Buches - gerade in diesem Zusammenspiel erzählerischer Mittel offenbart sich die emotionale Basis, auf der die Autorin versucht, ihr Bild von Felix zu vervollständigen. Doch trotz der gesammelten Gespräche mit seinen Freunden, trotz der Beschreibungen des leeren Zimmers, in dem er zuletzt bei seinen Großeltern gewohnt hat, trotz der Erinnerungen an letzte Begegnungen, trotz all dieser Versuche, näher an Felix heranzukommen, scheint nur das Gegenteil einzutreten: Sein Bild wird, auch für die Erzählerin, immer verschwommener, undeutlicher, als entziehe Felix sich nach und nach von selbst jeglicher Wahrnehmung, bis er schließlich nur noch wie eine schemenhafte Erinnerung erscheint.
Obwohl das tragische Ende durch vermehrte Anspielungen seitens der Erzählerin abzusehen ist, bleibt eine Spannung erhalten, der sich der Leser kaum entziehen kann. Parallel zur Geschichte von Felix, der sich vom erfolgreichen und ehrgeizigen Kampfsportler zum Türsteher und schließlich zum Drogenkurier entwickelt, erfährt der Leser auf einer anderen Erzählebene die Geschichte von Felix' Großeltern. Deren Beziehung, entstanden in den 50er-Jahren in Südafrika, stand unter den unglücklichen Auswirkungen der Apartheid: sie eine Farbige, er ein Weißer, der mit den Kommunisten liebäugelte. Durch die Folgen der Rassengesetze lebten sie auch noch nach ihrer Hochzeit ständig auf der Flucht und kamen schließlich nach Ostberlin. Durch diese Binnenerzählung vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit; die Konflikte, die das Leben von Felix bestimmen, scheinen sich in der problematischen Entfremdung seiner Großeltern widerzuspiegeln. Die Gespräche und Stimmungen, die die Erzählerin einzufangen versucht, sind von Melancholie und Selbstzweifeln geprägt, sie beschreibt leere Räume, schweigende Menschen und Beziehungen, die nur auf Äußerlichkeiten aufgebaut sind, als wüsste sie, dass die alles zugleich Symbole für eine Gesellschaft sind, die am Ende ist und deren Staat keinen Halt mehr bieten kann. In diesem Zusammenhang bildet Jana Simons Buch auch zugleich einen längst überfälligen Kontrast sowohl zu der Kultur der "Gleichaltrigen im Westen, die etwas überhebliche Generation Golf, die ihre Gesellschaftsform als die einzig mögliche ansah", als auch zu den Erfahrungen ihrer Altersgenossen, die wie sie im Osten aufgewachsen sind. Denn durch die Entwicklung von Felix zum gewalttätigen Hooligan und Kriminellen wird ein Gegenpol entworfen, der den Bereich der aktuellen Wendeliteratur um einen wichtigen Blickpunkt erweitert. Die Vermittlung dieses Lebensentwurfs geschieht bei Simon ohne vorschnelle Abwertungen oder Vorurteile, sprachlich wirkt der Dokumentarstil allerdings an manchen Stellen etwas holprig und übertrieben distanziert. Das Gefühl der Zerrissenheit, der Orientierungslosigkeit im Angesicht eines untergehenden Staates spricht eine Problematik an, die auch Jugendliche anspricht, die ähnliche Erfahrungen durch unterschiedliche Begleitumstände machen. Ein weiterer interessanter Aspekt, der auch im Unterricht behandelt werden könnte, scheint die Problematik des biographischen Erzählens zu sein: Distanz und Empathie, Schuldgefühle und die Wahl des eigenen Lebensentwurfs - Bereiche, in die Jana Simon eindrucksvoll die Beschreibung einer Ostberliner Adoleszenz integriert, ohne zugleich moralisierend bewerten zu wollen.




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Diese Rezension wurde verfasst von NRW-RD.
Veröffentlicht am 01.01.2010