Denk nicht, wir bleiben hier!

Autor*in
Tuckermann, Anja
ISBN
978-3-423-62682-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
304
Verlag
dtv
Gattung
SachliteraturTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2018
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Hugo Höllenreiner wird 1933 geboren, seine Mutter gibt ihm den Zweitnamen Adolf, im Glauben, ihre Familie vor Hitlers Ausschreitungen schützen zu können. 1938 erfährt die Sinti-Großfamilie, die am Rande von München ein Fuhrunternehmen betreibt, erste Übergriffe der Nazis.

Beurteilungstext

Hugo Höllenreiner hat viele Jahre über die Erlebnisse, die er und seine Familie als Sinti unter dem Naziregime erfahren hatten, geschwiegen. Erst 1993, fast ein halbes Jahrhundert später, gibt er dem Rat seiner Freunde und seiner Familie nach, über die Ereignisse in den Konzentrationslagern und auf den Transporten zu sprechen. Auf seinen Wunsch hin kommt es zu einer Zusammenarbeit mit der Autorin Anja Tuckermann. Diese beschließt „sofort, dieses Buch zu schreiben, und [Hugo Höllenreiner ist] bereit, [ihr] zu vertrauen. Viele Bücher berichten vom Überleben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, aber sehr wenige vom Leiden der Sinti und Roma.“ (S. 288) Ihr gelingt es, die nahezu unaussprechbaren Grausamkeiten in Worte zu fassen, sie benutzt hierfür die dritte Person und bindet – durch Fettdruck hervorgehoben – Hugo Höllenreiners Reflektionen bzw. Kommentare zu den Ereignissen wörtlich ein, wodurch seine Ergriffenheit und Sprachlosigkeit ob solcher Gräueltaten unmittelbar zum Ausdruck kommen. Die Interviews umfassen einen Zeitraum von 14 Monaten, im Jahre 2005 geht die erste Fassung des Buches in den Druck, 2017 erscheint, 2 Jahre nach Hugo Höllenreiners Tod, eine Neuauflage. In deren Nachwort berichtet Tuckermann, dass Hugo Höllenreiner, nachdem er sein Schweigen gebrochen hatte, immer wieder in Schulklassen als Zeitzeuge aufgetreten ist, Regisseure bei ihrer Spielfilmproduktion fachlich unterstützte und auf diesem Weg versuchte, die Grausamkeiten des Naziregimes gegenüber seinem Volk nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber auch er musste erleben, dass Geschichte ‚schöngeredet‘ wird, dass es Tendenzen in Deutschland gibt, die Wahrheit zu verbiegen und zu unterdrücken: „Anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung [von Ausschwitz] berichtete Hugo im Bürgersaal einer Kleinstadt von seinem Schicksal. In der folgenden Nacht wurde sein Auto mit Benzin übergossen und angezündet. Das war im Jahr 2005.“ (S. 289)
Der Leser begleitet Hugo von den ersten Übergriffen 1938 über die Befreiung aus dem Konzentrationslager durch die Engländer bis zu den Schwierigkeiten bei der Rückkehr nach München. Hugos Vater, Dada, hat ein kleines Fuhrunternehmen, handelt mit Pferden, und er besitzt neben einem Leiterwagen sieben Pferde. Der Großvater, Babo, betreibt ein Kasperltheater und benötigt für seinen Wandergewerbeschein einen festen Wohnsitz. Alle Mitglieder der Großfamilie stammen aus der Nähe des bayerischen Fürth und haben diese Staatsangehörigkeit. Über viele Jahre hinweg reiste die Familie des Großvaters durch die Lande und verdienten sich auf vielfältige Weise ihren Lebensunterhalt. Dies wurde nach dem Ersten Weltkrieg verboten, weshalb sich Babo mit Kindern und Kindeskindern am Rande von München niederließ. Hugo berichtet von einer sorglosen, wenn auch ärmlichen Kindheit inmitten der Großfamilie. Die Großelterngeneration berichtet bei Festen von ihren vielfältigen Erlebnissen auf den Reisen quer durch Deutschland, aber auch von dem wachsenden Druck durch Polizei und Regierung. 1938 beginnen, nachdem auf Dadas Unternehmen ein Brandanschlag verübt worden ist, die Repressalien: Die Großfamilie wird in der Münchner ‚Zigeunerzentrale‘ zitiert, dort vermessen und ermittlungstechnisch erfasst. Stammbäume der Sinti-Familien werden erstellt. Bald darauf werden die Männer in den Krieg eingezogen, weshalb die Familien sich sicher wähnen – ihr Väter kämpfen ja fürs Vaterland. Inzwischen sind alle Pferde beschlagnahmt, die Kinder dürfen sich nicht mehr in ihrer Sprache, Romanes, unterhalten. Die Lebensmittelkarten sind mit ‚Z‘ gekennzeichnet, weshalb sie weniger Lebensmittel als ihre Mitmenschen zugeteilt bekommen. Bald darauf verlassen sie München, wo die Lage immer bedrückender wird, und gehen nach Lenggries. Doch sie ahnen nicht, dass dies erst der Anfang einer Wanderschaft sein soll, die allen grausame Erfahrungen an Leib und Seele, manchen sogar den qualvollen Tod bringen wird.
Über fast 250 Seiten erzählt Hugo von seinen Erlebnissen, von seinen Hoffnungen, gemeinsam mit der Familie irgendwie am Leben zu bleiben, von der Härte und den unmenschlichen (Be-)Handlungen in den Lagern. Zwei Jahre verbringt er in verschiedenen Konzentrationslagern, das erste ist das so genannte Zigeunerlager in Ausschwitz-Birkenau, befreit wird er von den Engländern in Bergen-Belsen. Frauen und Männer werden zwangssterilisiert, viele sterben an den Folgen, werden krank, verhungern, brechen unter der Zwangsarbeit zusammen. Die Darstellung des Lagerlebens ist unverblümt, grausam, nicht beschönigend - durch die Sicht des jungen Hugo, der die Zusammenhänge nicht versteht, der sich um und für die Mutter und Geschwister sorgt, erlebt die Darstellung eine Tiefe, die es in Gesprächen aufzuarbeiten gilt.
Dieses Buch ist keine unterhaltsame Lektüre, sondern fordert in der heutigen Zeit, die die Ereignisse des letzten Jahrhunderts zunehmend in ‚Watte packt‘, ausblendet, nicht mehr in ihrer Grausamkeit empfinden möchte, zur Wachsamkeit auf und zum Bewusstsein, dass jeder Mensch jederzeit in der Lage ist, andere zu verurteilen, zu quälen und sich über andere zu stellen.
Für Hugo Höllenreiner ist mit der Befreiung noch lange kein Ende der Tortur erreicht, über Jahre hinweg trifft er ehemalige SSler und Wachleute aus den Konzentrationslagern als freie Menschen auf den Straßen. Wer von diesen empfindet Schuld für sein Vergehen, wer sieht sich als Opfer eines Regimes, für dessen Anweisungen er angeblich nichts kann? Finden wir heute, im 21. Jahrhundert, nicht ähnliche Argumentationen, wenn es heißt, Verantwortung zu übernehmen? Über viele Jahre hinweg gab es einen bekennenden Pazifismus in der Bundesrepublik Deutschland – wer traut sich heute noch, dafür auf die Straßen zu gehen?
Daher ist es wichtig, dass es solche Bücher wie das vorliegende gibt, aber sie brauchen Erklärungshilfen, damit ihre Leser die Menschen bzw. die Schicksale, die sich dahinter verbergen, als Teile unserer Gesellschaft wahrnehmen und Fragen stellen können. Denn mit wachsender zeitlicher Distanz zu den Ereignissen des letzten Jahrhunderts schwinden auch die Zeitzeugen, werden deren Darstellungen zu Zeichen, die der Einzelne verstehen will oder nicht will.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Veröffentlicht am 31.12.2018

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