Das Spiel von Liebe und Tod

Autor*in
Brockenbrough, Martha
ISBN
978-3-7855-8262-6
Übersetzer*in
Komina, JessikaKnuffinke, Sandra
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
397
Verlag
Loewe
Gattung
Ort
Bindlach
Jahr
2016
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
18,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Seit Jahrhunderten spielen Liebe und Tod, um zu gewinnen. Ihr Einsatz sind auserwählte Protagonisten, die bereits nach der Geburt unauffällig gezeichnet werden. Regeln und Spielzeit sind unabänderlich gesetzt. Liebe und Tod nehmen wechselnde Identitäten ein, um ins Spiel einzugreifen. Das geschieht mal subtil, mal mit Macht sogar auf Geschehnisse historischen Ausmaßes. Die Figuren behalten ihre Charaktere, sind ins Zeitgeschehen verwoben aber ahnungslos über fremde Einflüsse auf ihr Leben.

Beurteilungstext

Dieses Buch kann auf unterschiedlichen Ebenen gelesen werden.
Die einfachste ist die, es als eine spannende Liebesgeschichte mit Fantasy-Elementen zu sehen: Verlieben sich die beiden Spieler von Liebe und Tod ineinander, dann gewinnt Liebe das Spiel. Tod gewinnt, wenn sich nur eine Person verliebt, oder die Spieler sich z.B. bis zum Spielablauf trennen. Dann muss mindestens eine der Personen sterben.
Die ausgewählten Personen (Flora und Henry) finden langsam zueinander, obwohl eine Beziehung ohne ihr Wissen schon in der Kindheit angelegt wurde. Ihre Beziehung wird von außen nicht akzeptiert und wird gesteuert von den zwei weiteren im Hintergrund handelnden Protagonisten. Haben Liebende unter vorbestimmten Bedingungen eine Chance miteinander zu leben? Können sie einem Schicksal entkommen?
Daneben und darunter liegen weitere Lesarten des Buches:
Sie stellen Fragen nach
- einem vorbestimmten Schicksal, in das man hineingeboren wird,
- der Handlungsfähigkeit der Menschen, nach ihren Spielräumen und ihren
Grenzen,
- der Abhängigkeit von sozialer Herkunft,
- den Grenzen oder Möglichkeiten von Bildung, Kunst und Presse
- dem Einfluss von eigenen und von fremden Weltbildern
- dem Einfluss der Liebe auf eigene Entscheidungen, im Hinblick auf die
endliche Lebenszeit jedes Einzelnen

Das Buch beginnt in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Seattle. Es gibt noch enorme Klassengegensätze und die Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung gehört dazu. Es gibt die Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, deren Handlungsmöglichkeiten allerdings nicht gleichwertig sind.
Da ist Liebe: Er ist überwiegend materialisiert in James Booth, einem jungen Mann, der in einem Obdachlosenbezirk Seattles eine Art Bürgermeisterfunktion erfüllt. Manchmal steckt er in einem Spatzen, dessen Flugfähigkeit er nutzen kann, um einen Überblick zu behalten.
Da ist Henry: Liebe hat ihn sich als Spieler auserwählt. Er besitzt einen klaren, offenen Charakter und sucht nach einer selbstbestimmten Art zu leben. Bis jetzt lebt er in einer reichen Verleger-Familie, nachdem seine Eltern früh gestorben waren. Die neue Familie nimmt ihn neben Ethan und Annabel als nahezu gleichberechtigten Sohn auf. Er ist begabt, beendet bald seine Schule, um an einer Eliteuniversität zu studieren. Zudem spielt er klassische Musik, was allerdings lediglich als Hobby toleriert wird. Später wird er auch eigene Lieder und Jazzmusik spielen.
Da ist Ethan: Er ist der leibliche der Sohn des bestimmenden Verlegers. Ihn verbindet eine starke Beziehung zu Henry. Sie können sich uneingeschränkt aufeinander verlassen. Er ist Legastheniker und daher als angehender Redakteur beruflich abhängig von Henrys Unterstützung. Er soll später die Aufgaben seines Vaters übernehmen, könnte dies aber niemals alleine. Er wird sich bei einer Recherche zu einem Artikel über ein Obdachlosenviertel Seattles in James verlieben. Er versteckt seine Homosexualität nicht nur vor seinen Eltern, sondern auch vor seinem Freund.
Da ist Tod: Sie materialisiert sich – kurz nach dem Beginn des Spiels – überwiegend in Helen, einer reichen jungen Frau, die auch zu der Familie und zum Establishments gehört. Als Cousine von Ethan soll sie Henry heiraten, damit er den anderen Familienmitgliedern wirklich ebenbürtig wird. Manchmal ist sie die Katze, die sich im Umfeld von Flora aufhält, eine ihrer weiteren Materialisierungen, um unauffällig alle Spielfäden im Blick behalten zu können.
Da ist Flora: Sie wurde von Tod als Spielerin ausgewählt. Sie ist Mechanikerin, eine außergewöhnliche Pilotin und begabte schwarze Sängerin. Ihr größter Traum ist es, Flugrekorde zu brechen. Von ihren Fähigkeiten her, wäre dies möglich, jedoch nicht als Frau und schon recht nicht als schwarze Frau. Sie lebt anerkannt in einem emotional gesicherten Umfeld mit ihrer Großmutter, ihrem Onkel und den Mitarbeitern und Musikern ihres Jazz-Clubs. Ein Verehrer ist der Bassist der Band. Auch ihre Eltern kamen bei einem Unfall ums Leben.
Da ist die richtige Helen: Sie wird von Tod in einer psychiatrischen Klinik isoliert. Ihre spätere Entlassung wird das Geschehen beeinflussen.
Aus wechselnden Perspektiven schreibt die Autorin in kurzen Kapiteln über die Lebensentwürfe, die Geschichte und Gefühle dieser Menschen. Sie zeichnet unaufdringlich aber bedrückend die soziale und politische Situation in dieser Stadt und Zeit aber auch deren Hoffnungen.
Dabei beleuchtet sie das Leben in eigenen schwarzen Clubs und Restaurants oder in Obdachlosenghettos. Es steht in krassem Gegensatz zu den Lebensmöglichkeiten der reichen weißen Bevölkerung, die keine Grenzen beachten muss, um z.B. zu arbeiten oder auszugehen.
Die Autorin baut das sich langsame Nähern der beiden ungewöhnlichen Menschen auf, ohne je pathetisch oder oberflächlich zu werden. Ausdrucksstark beschreibt sie Gefühle und Gedanken in einer ungewöhnlich vielseitigen Sprache mit poetischen Bildern. Jede ihrer beschriebenen Personen hat den nötigen Raum, sich zu entwickeln und eigene Facetten zu zeigen. Immer bleiben aber noch Leerstellen genug, um die Leser zu eigenen Überlegungen herauszufordern.
Sie fügt mehrere Kapitel ein, die die Strategien von Tod und Liebe erklären und philosophisch reflektieren. Sie dienen als Spannungselemente, fordern aber auch hier zu eigenen Überlegungen oder Widerspruch heraus, denn auch Tod hat bedenkenswerte Argumente. Tod und Liebe treffen sich, um über den Fortgang des Spiels zu beraten und legen in diesen Gesprächen facettenhaft ihre besonderen Eigenschaften und Überzeugungen offen.
Obwohl: Ein Spiel mag man es nicht nennen, denn es geht um zu viel. Es geht nicht nur darum, ob ein Paar – hier Flora und Henry – sich in einer historischen Situation finden können, in der nicht nur Klassenschranken und Hautfarbe eine solche Bindung von vornherein unmöglich machen. Es geht um das Erwachsenwerden, um den Versuch einer eigenen Weltsicht, um das Aufbegehren angesichts von Zerstörung und des unvermeidlichen Schicksals, um ein Entkommen aus beengenden Strukturen von Familie, Gesellschaft und vordergründiger Moral. Und schließlich geht es geht um die Frage, wie es zu leben und zu sterben gilt, wenn der Tod in das Leben eingebunden und die Lebenszeit endlich ist.
Für Leser ergibt sich in diesem Buch ein möglicher, ein umfassender Plan, der hinter allen Geschehnissen der Weltgeschichte steht. Dies ist parabelhaft festgemacht an den großen Liebenden der Weltliteratur und an den Katastrophen durch Kriege und verheerende Unfälle. Tod führt den Spielern die Macht ihrer Vergangenheit bedrohlich vor Augen. Tod wird zudem in der dokumentierten Spielzeit alles, was den beiden Menschen lieb ist, zerstören oder töten. Menschen sterben, werden vorübergehend ruhig gestellt und des Bewusstseins beraubt. Behörden zeigen ihre korrupten Strukturen. Die Recherchen unterliegen der Zensur des Verlegers: Stories sind gut, wenn sie Auflagen machen. Tod wird als Spielzug daher die unerlaubte Beziehung zwischen Flora und Henry öffentlich machen und den Club abbrennen.
Gegen Tod steht Liebe, der eine andere Welt anstrebt. Gegen Tod steht auch der Wille der auserwählten Spieler und ihrer Mitstreiter, ein eigenes, ein glückliches Leben zu gestalten, sich Ziele zu stecken und auf Möglichkeiten der Veränderung zu hoffen.
Der Autorin gelingt es, die Charaktere der Personen und der Lenker des Spiels mit inneren Konflikten glaubhaft zu entwerfen und über die gesamte Handlung des Buches nicht so ganz eindeutig festzuschreiben. Sie entwickeln sich, ohne dass die Spannung darunter leidet.
Dies ist besonders in Bezug auf Tod ungewöhnlich. Sie ist eine Frau, sie hat Sehnsüchte und wird ihre Bedürfnisse befriedigen. So leibt sie sich das verfliegende Leben der Toten ein, um ihre Art von Hunger zu stillen.
Die Rolle von Liebe scheint klarer. Er scheint die geringere Macht, den kleineren Spielraum zu besitzen. Er hat schon oft verloren. Er muss auf jeden Fall andere Lösungen finden, um zu gestalten. Er darf auf keinen Fall zerstören. Er versucht, Strukturen zu verändern und Engagement für die von der Gesellschaft Vergessenen zu entwickeln, die schuldlos in Not geraten sind und nun ausgegrenzt werden.
Beide spielen sie auf ihre eigene Art ehrlich. Keiner würde lügen und es scheint, als bestünde eine echte Beziehung zwischen den Beiden, die zumindest von Verständnis geprägt ist.
Die menschliche Liebe wird nie leicht zu erhalten sein. Sie wird scheitern ohne Anstrengung und Mut, darf aber weder naiv noch hoffnungslos gedacht werden. Der Tod dagegen kann wüten und freundlich sein. Da bleiben viele Fragezeichen und Sätze zu klären.
Es ist nicht ganz einfach, eine geschlossene Weltsicht zu benennen, die hinter den einzelnen Teilen der Erzählung steht.
Dies wäre interessant, in Gruppengesprächen herauszufinden. Vielleicht auch, um darüber zu diskutieren, wie eine veränderte Weltsicht die Zusammenhänge bis in die historische Zeit anders erklären würde oder, welcher andere Plan hinter allem zu vermuten wäre. Geben Philosophie oder Religionen darauf Antworten?
Martha Brockenbrough nutzt und zerstört gleichzeitig die Vor-Urteile der bekannten Liebesgeschichten und denkt auch vom Ende her, ohne das Ende für die Leser berechenbar zu machen.
Die Autorin weiß offenbar, was Kunst – hier Musik und Fliegerei – oder was Engagement - hier Presse und gelenkter Protest und was Liebe bewirken können. (Darauf geht sie indirekt in ihrer ungewöhnlichen Danksagung am Ende des Buches ein.)
Sie verhilft den Lesern zu einem gedanklichen Abenteuer und vielfältigen Gewinn, wenn sie sich für eine Weile auf alle Spieler einlassen.
Das Buch bietet allen auch ein sprachliches Lesevergnügen, wenn sie dem Plan vom 13. Februar 1920 bis zum 7. Juli 1937 folgen, und darüber hinaus bis zu dem hier letzten Treffen von Liebe und Tod am 28. März des Jahres 2015. Dann erklingen auch zum letzten Mal die Kompositionen der 30er-Jahre „Walk beside me“ und „Someday“ auf einer alten Schallplatte. Liebe und Tod werden miteinander tanzen und in der Stille verschwinden, Leser ihre eigene Positionierung vielleicht anders und mit Abstand anschauen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 14.10.2016

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