Das Mädchen seiner Träume

Autor*in
Leon, Donna
ISBN
978-3-257-06695-1
Übersetzer*in
Seibicke, Christa E.
Ori. Sprache
Amerikanisches Engli
Illustrator*in
Seitenanzahl
350
Verlag
Diogenes
Gattung
Ort
Zürich
Jahr
2009
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
21,90 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Brunetti findet ein ertrunkenes 10-jähriges Mädchen im Kanal. Die Untersuchung ergibt, dass es sich offensichtlich um ein Roma-Mädchen handelt, das im Zusammenhang mit einem Einbruch zu Tode kam. Bei der Ermittlung stößt Brunetti immer wieder an Grenzen, so dass er letztlich den Fall zwar klären, nicht aber abschließen kann, weil der eigentlich Schuldige an diesem Todesfall tabu ist und bleibt.

Beurteilungstext

An die 100 Seiten braucht Donna Leon diesmal, bis der Todesfall eintritt. Erst jetzt bekommt der Krimi Brisanz. Im ersten Teil ermittelt Brunetti für einen Priester gegen einen Sektenprediger, der großen Zulauf hat, über den aber niemand etwas wissen will. Leons Vorbehalte gegen den italienischen Klerus bekommen hier breiten Raum, geklärt wird der Fall aber nicht so recht und das verbindet diesen scheinbar belanglosen Nebenschauplatz mit dem zweiten, nun aber recht problematischen Fall. Brunetti versucht, mit der Familie des Mädchens in Verbindung zu treten und findet alle bekannten Vorurteile, die “man” gegen die Roma hegt, bestätigt. Die Kinder werden zu kriminellen Handlungen angehalten, ihnen kann man nichts anhaben und die ermittelnden Polizisten fühlen sich als “Taxifahrer missbraucht”, weil sie nur die ertappten Kinder in das Roma-Lager zurückfahren, ohne die geringste Möglichkeit, etwas unternehmen zu können. Nur langsam tauchen aus dem Hintergrund die Ursachen auf, bleiben aber nebulös. Man ahnt nur, dass die Roma selbst Opfer sind, aus ihrer Rolle nicht heraus kommen können. Eigentlich bleibt alles ungeklärt und erst, als Brunettis Vorgesetzter, der eitle Schaumschläger Patta, die Untersuchung abbrechen will, kommt der Kommissar auf die richtige Spur, die aber dann doch ins Leere führt.
Donna Leon führt hier die Sinnkrise vor: Wenn es gegen die Kirche geht oder gegen die Oberschicht, versagt die Justiz. Das wird nicht klar benannt, bemerkenswert ist die Computer-Spezialistin Elettra, vor der kein Computersystem sicher ist, dafür hat sie aber die notwendigen Beziehungen, wenn sie doch einmal auf Grenzen stößt. Für sie gibt es kein perfekteres System als das des Vatikans. Und natürlich findet sie die Informationen, die sie braucht.
Leon hat diesmal nicht in allen Bereichen gut recherchiert. Wenn sie einen Missionar, der 20 Jahre im Kongo lebte, nicht wissen lässt, was Coltan ist und behauptet, dass aus dem ominösen Mineral Chips für Mobiltelefone hergestellt werden (Coltan ist Columbit-Tantalit, das für die Produktion von kleinsten Kondensatoren mit hoher elektrischer Kapazität benötigt wird und tatsächlich fast nur im Kongo vorkommt, deswegen hochbegehrt ist und rücksichtslos abgebaut wird), ist das fahrlässig.

Aber das ist erst der halbe Roman, die andere Hälfte ist Venedig, das Leben in Italien, die Familie Brunettis. Das zusammen erst macht den wirklichen Reiz der Geschichten Donna Leons aus. Das Essen beschreibt sie so appetitlich, dass ich immer versucht bin, es sofort nachzukochen. Die Debatten der Italiener gibt sie so wieder, dass man das Gefühl hat, mitten im Geschehen zu sein - hier ist weniger von Berlusconi die Rede als von der allgegenwärtigen Mafia, und sei es nur als Gespenst. Und die Familie! Wenige gibt es, in der die Partner ein derartig gleichberechtigtes Leben führen. Jeder hat seinen Bereich, in dem der andere ihm neidlos das Revier überlässt, die wesentlichen Bereiche aber werden gemeinsam diskutiert, Beschlüsse werden nur im Einvernehmen gefasst. Und die Kinder, die Tochter ist noch Schülerin, führen ein selbständiges Leben, werden von ihren Eltern respektiert und sie fühlen sich von ihnen ernst genommen, so dass sie selbstverständlich ihre Bereiche haben, von denen die Eltern nichts oder fast nichts wissen, aber das ist für sie ebenso selbstverständlich und gerade deswegen vertrauen sie ihren Eltern bedingungslos. Und bieten ihnen die Stirn, wenn es z.B. Brunetti in den Sinn kommt, seine Tochter als Spitzel zu benutzen. Aber weder die Tochter noch gar die Mutter spielen dann mit. Beide reagieren hellhörig und empört, noch bevor der Vater ausgesprochen hat, was er eigentlich will. An seine für den Fall notwendigen Informationen kommt er ohnehin immer auch auf andere Art. Seine Schwiegereltern, ein etwas geheimnisvoll-distanziert erscheinendes Aristokraten-Ehepaar gibt ihm dagegen schon öfters Auskunft über Wege und Charaktere in der venezianischen Oberwelt - immer diskret und ohne mehr als das Mindesteste zu verraten.
Anlass zur Diskussion über die Rolle der Kirche bietet dieser Krimi reichlich, spart aber die eigentliche Diskussion über den Glauben weitgehend aus; die erkennbaren Vergehen gegen das kleine Mädchen dagegen nennt sie nur. Sie lässt zu viele Deutungsmöglichkeiten zu, bedient sogar dadurch die Vorbehalte gegenüber den Roma - aber es kann sein, dass die Roma sich in Italien anders verhalten als in Deutschland; dass die beiden EU-Staaten grundsätzlich unterschiedlich mit den dort tatsächlich nomadisierenden Familien umgehen.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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