Das hässsliche Entlein

Autor*in
Andersen, Hans Christian
ISBN
978-3-314-01676-9
Übersetzer*in
Vainio, Pirkko
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
25
Verlag
Nord-Süd
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)Sachliteratur
Ort
Gossau
Jahr
2020
Lesealter
4-5 Jahre6-7 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
15,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Teaser

Sehr gekürzte Version des Märchens von Andersen, in dem vom im Entennest ausgebrüteten Ei eines Schwans erzählt wird. Das fremd aussehende Tier wird von den Enten abgelehnt. Erst, als es sein fertiges Federkleid entwickelt hat, findet es nach vielen traurigen Erfahrungen zu einer Schwanengruppe, die es annimmt.

Beurteilungstext

Es ist eine weitere Lesart und Erzählung des bekannten Märchens von Hans Christian Andersen. Leider ist im Buch nirgendwo vermerkt, dass es sich um eine Neuerzählung nach dem ursprünglichen Text des Autors handelt. Es ist auch nicht klar benannt, ob die Zeichnerin selbst den Text gekürzt und bearbeitet hat. Die Kurzbiografie (Hinweis auf klassische Philosophie), legt dies nahe. Ein Übersetzungshinweis in Bezug auf die Kürzung ist nicht zu finden.
Der Text wurde ganz wesentlich um wichtige Teile gekürzt. Er erzählt im Wesentlichen nur den Aspekt, dass aus einem hässlichen, den anderen fremd bleibenden Küken, später ein wunderschöner Schwan wird.
Da wird ein äußerlich fremdes Küken abgewiesen und gequält, weil es anders aussieht und etwas größer ist als die anderen Küken des Geleges. Auch auf seiner Flucht aus dem Gehege in weitere Lebenswelten stößt es auf diese Ablehnung. Es bleibt allein, weil es hässlich ist. Diese erste Zuschreibung wird in jeder Szene wiederholt, auch wenn die Bilder die ein niedliches graues Küken zeigen, dagegen sprechen.
Eine Sehnsucht erfasst es, als es im Herbst die weißen Schwäne fortfliegen sieht. Es wäre gerne mitgeflogen, weil es die Tiere so schön findet.
Im Winter wird es von einem Bauern aus dem Eis gerettet und darf in seiner Scheune überwintern. „Doch dann bekam es eines Tages wieder Sehnsucht nach der Freiheit,…“ und verlässt den Hof. In welche Freiheit es sich "wieder" wünscht, können Kinder nach dem bisherigen Text nicht erkennen. Es bleibt immer noch allein.
Als die Schwäne im Frühjahr schließlich zurück kommen, kann es fliegen. Es erkennt sein verändertes Aussehen im Wasser und wird von den anderen Schwänen als eines der Ihrigen aufgenommen. Nach dieser Erzählung „konnte es die schlimme Zeit vergessen…“ und auch, dass es einmal hässlich war.
Da das Küken keinen Vergleich und kein Wissen über seine Zugehörigkeit hatte, wusste es nichts von seiner späteren Entwicklung. In einer Schwanenfamilie - so die Lesart - wäre es ganz normal aufgewachsen, ohne überhaupt je in Schwierigkeiten geraten zu sein.

Das liest sich bei Andersen vollkommen anders: „Es fühlte sich ordentlich erfreut über all' die Noth und die Drangsale, welche es erduldet. Nun erkannte es erst recht sein Glück an all' der Herrlichkeit, die es begrüßte.“ Und auch:
„Da fühlte (der Schwan) sich so beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel; er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte; er war allzu glücklich, aber durchaus nicht stolz, denn ein gutes Herz wird nie stolz!“

Es geht nach dieser hier um die Reduktion auf das Äußere. Andersen hingegen verweist bereits mit den ersten Sätzen auf die Welt außerhalb des Nests, auf andere Sprachen, auf die Konflikte im Zusammenleben. Er zeigt Konkurrenz und Macht und spricht über Entwicklung durch Lebenserfahrung und Lernen.

Hans Christian Andersen erscheint ausdrücklich als der Autor des Textes. Wäre es ein Bilderbuch, ohne diesen Bezug, könnte über seine eingeschränkten Aussagen hinweggesehen werden. So allerdings nicht.
Zum Glück gibt es die liebevoll gestalteten Bilder. Das Buch gewinnt durch sie Qualitäten auf einer anderen Ebene.
Die wunderschönen Aquarelle und Zeichnungen werden Kindern sicher gut gefallen. Auch das angeblich hässliche Tier sieht ja schon als Küken genauso niedlich aus wie seine Geschwister aus dem Gelege. Kinder werden fragen: Wieso, das hat doch nur eine andere Farbe?
Es kann sich bei der Betrachtung sogar die Frage ergeben, ob nur die Zuschreibungen von außen es machen, ob jemand als schön, hässlich oder liebenswert bezeichnet wird.
Oder: Ist Aussehen das Wichtigste? Habe ich deswegen keine Freunde? Lehnen mich andere nur deswegen ab, weil ich nicht so schön bin?

Pirkko Vainio durchbricht durch ihre manchmal doppelseitigen Aquarelle mit detaillierten Zeichnungen die Aussage des fließenden Textes. Gut, wenn Vorleser in der Lage sind, kommentierend zu lesen und Kinder es kennen, Texte oder Bilder zu hinterfragen. Das ist durchaus ab dem vierten Lebensjahr möglich.
Sie gibt den BetrachterInnen die Möglichkeit, nur die zarten empathischen Bilder ohne den Text sprechen zu lassen, oder, die Geschichte dazu selbst zu erzählen. Die Bilder geben es her, sich in die Gefühle des einsamen Kükens hineinzuversetzen, das noch keine Zugehörigkeit gefunden hat. Sie erzählen z.B. von Ausgrenzung inmitten scheinbarer Harmonie, vom allein gegen Andere stehen zu müssen, von Traurigkeit, von Kälte und Einsamkeit, von dem Wunsch nach Freiheit. Sie zeigen das Zurück-bleiben-müssen, weil man noch so klein ist, das Glück der Rettung aus der Not und schließlich das Dazugehören zu einer Gruppe.
Wenn Andersens Text im Hintergrund mitgedacht wird, fehlen viele Aussagen und Gedanken. Sie sind kleinen Kindern durchaus zuzumuten und begreifbar. Gerade weil Kinder in diesem Alter manche Vorurteile zum Glück so noch nicht kennen bzw. noch nicht verinnerlicht haben.
Bilder können viel transportieren und vereinfachte philosophische Botschaften gelingen gerade durch sie oft gut.

Das Buch ist im Nord-Süd-Verlag erschienen.
Im Zusammenhang mit Ausgrenzungs- und Rassismus-Diskussionen scheint es eine passende Zeit zur Veröffentlichung zu sein.
Es bietet sich hier aber eher an, in höheren Klassen der weiterführenden Schulen - z.B. im Ethik/Philosophie-Unterricht - mit diesem Beispiel eine vergleichende kritische Textanalyse anzustellen:
Welche Weltsicht, welches Weltbild steckt hinter den jeweiligen Erzählungen/Ausgaben?
Wie entstehen Weltbilder?
Welche Weltsichten finden sich in aktuellen Debatten?
Welche Lösungen ergeben sich aufgrund der Texte?
Welche neuen/anderen Überlegungen werden denkbar?

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 04.07.2020

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