Das falsche Geschlecht

Autor*in
Chruchaudet, Chloé
ISBN
978-3-945034-08-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Französisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
160
Verlag
avant-verlag
Gattung
ComicTaschenbuch
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
24,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Chloé Chruchaudet erzählt die Geschichte des Deserteurs Paul, der den Schrecken der Schützengräben entflieht und in Paris untertaucht. Von der Gendarmarie verfolgt und mit dem Tode bedroht, verkleidet er sich mithilfe von Frauenkleidern als „Suzanne“ und kann so wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Nach und nach bildet sich unter seiner Maskerade eine neue Identität aus...

Beurteilungstext

Paris, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Paul führt das ausschweifende Leben eines Dandys, bis er auf Louise trifft. Sie verlieben sich und heiraten bald. Noch vom Traualtar weg wird er zum Militärdienst einzogen und landet schließlich im Schützengraben, irgendwo entlang der langen Westfront zwischen dem belgischen Ypern und dem französischen Nancy. Er verstümmelt sich selbst, um dem Schrecken des Krieges zu entkommen, doch vergeblich. Im Lazarett von seiner baldigen Rückbeorderung an die vorderste Frontlinie erfahrend desertiert er schließlich und taucht in Paris unter. Er, der nun von der Gendarmerie gesucht wird und dem die Hinrichtung wegen Fahnenflucht droht, versteckt sich in einem winzigen Appartement ohne Ausblick und leidet schnell unter seiner als ausweglos und unerträglich empfundenen Situation. Nach einem Streit mit seiner Frau, die als einzige von seinem Versteck weiß, ihn unterstützt und versorgt, schlüpft er schließlich in ihre Kleider und erkundet das nächtliche Stadtleben. Aus dieser Erfahrung heraus fasst er den Entschluss, sich künftig als Frau zu verkleiden und auszugeben, um sich wieder in die Öffentlichkeit wagen zu können; Paul wird zu „Suzanne“. Zusehends wird die „falsche“, nach außen hin ausgestellte zu seiner wahren Identität. Als ihn nach vielen Jahren die Nachricht von der Begnadigung aller Deserteure erreicht, könnte er die Maskerade endlich aufgeben und ein bürgerliches Leben führen. Von seiner Frau vor die Wahl gestellt, scheint ihn gerade diese Aussicht zu zerreißen.

Nur auf den ersten Blick reiht sich der Comic ein in den Kanon der Werke der grafischen Literatur, die aus Anlass des einhundertjährigen Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen sind, und widmet sich stattdessen höchst zeitgenössisch anmutenden Fragen in historischer Perspektive: Wie wird über unsere sexuelle Identität entschieden? Kommen wir als das, was wir unter einem „Mann“ bzw. einer „Frau“ verstehen, zur Welt und tragen die entsprechenden Veranlagungen bereits seit Geburt in uns? Oder werden wir durch Sozialisation erst dazu gemacht?

In “Das falsche Geschlecht” werden Antworten auf diese Fragen gesucht, indem die vielen Möglichkeiten der Comic-Ästhetik geschickt ausgespielt werden. In den ständigen Wiederholungen der Figuren von Bild zu Bild, die nötig sind, um diesen „Leben“ zu verleihen und einen „Charakter“ zu geben, werden ebenso jene Maskeraden, Gesten und Rituale wiederholt, die im Alltag dazu dienen, uns und anderen unsere Identität als Mann/Frau zu versichern. Schritt für Schritt bzw. Bild für Bild lässt sich etwa nachvollziehen, wie sich die anfangs groben, ungezwungenen Bewegungen Pauls zu den grazilen und ausgestellt affektierten Gesten „Suzannes“ verwandeln. Gleiches gilt für die Wahl der Kleidung, die ja in erster Linie Unterschiede markieren soll, und das nicht nur in Geschmacksfragen. In Pauls Fall ist sie der wichtigste, weil unmittelbar ins Auge springende Teil seiner Verwandlung zu „Suzanne“; seine Rituale des Be- und Entkleidens, aber auch des Manikürens und Schminkens inszenieren in Bildern und Sequenzen wiederholt die Verwandlung vom Mann zur Frau.

Leitmotivisch wabert die Farbe Rot durch die ansonsten in Weiß-, Schwarz- und Grautönen gehaltenen Panels, die sich ohne Umrahmung im Weiß des Gutters auflösen. Die roten Kleider, Röcke, Blusen, Schals etc., die zunächst Louise, später dann „Suzanne“ trägt, lassen sich einerseits als Sinnbild für die weibliche Anziehungskraft lesen und darauf, wie „Suzanne“ in dieser Hinsicht Louise zunehmend den Rang abläuft, indem sie die männlichen wie weiblichen Blicke gekonnt auf sich zieht. Andererseits zeigt sie auch, wie sich Leidenschaft und Anziehung in einer Beziehung verlagern und letztlich auch verlieren können: In einer Tanzszene am Beginn der Erzählung sind die Rollen klar verteilt; er mit Schiebermütze und schwarzem Hemd, sie in weißer Bluse und rotem Rock, er führt sie beim Tanz und sie lässt sich fallen; in ihrer Gegensätzlichkeit ziehen sie sich an.
In einer zweiten Tanzszene am Ende der Geschichte ist die Konstellation nicht mehr die gleiche; er führt sie nicht mehr, möchte sich ihr in die Arme werfen, woraufhin beide fallen; beide tragen weiße Kleidung, sie sind „leer“, Gegensatz, Leidenschaft und Anziehung sind verflogen.

“Das falsche Geschlecht” ist eine großartige Graphic Novel, die alle Register der Comic-Kunst zieht, ein wichtiges Bewusstsein für kollektive Identitätsbildungen schafft und für Verständnis und Toleranz gegenüber nichtheteronormativen Lebensentwürfen wirbt.

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Diese Rezension wurde verfasst von mz.
Veröffentlicht am 01.01.2010