Brennnessel-Haut

Autor*in
Lemanczyk, Iris
ISBN
978-3-89502-405-4
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
286
Verlag
Horlemann
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Bad Honnef
Jahr
2020
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
12,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Ravensburg in den 30er Jahren: Kajetan und Heiner sind beste Freunde, sitzen nebeneinander in der Schule und verbringen viel Zeit zusammen. Nach der Machtergreifung der Nazis wird Kajetan als „dreckiger Zigeuner“ beschimpft und die Freunde werden auseinandergerissen. Die zunehmende Entrechtung, Verfolgung, Ghettoisierung und schließlich Ermordung vieler Mitglieder von Sinti-Familien trifft auch die Familie Reinhardt.

Beurteilungstext

Jugendliterarische Bearbeitungen der Lebens- und/oder Verfolgungsgeschichten von Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum gibt es nicht sehr viele. So ist es ein besonderer Verdienst der engagierten Autorin Iris Lemanczyk sich dieser wahren Geschichte einer Kinderfreundschaft angenommen zu haben.
Ihre Romane in dem kleinen engagierten Horlemann Verlag sind immer getragen von der Sympathie für Kinder und Jugendliche an den Rändern der Gesellschaft z.B. Kinder mit Migrationsgeschichte. Wie sie in einem Interview für das Eselsohr 7/21 betont, liebt sie es „wenn sie „den Gerechtigkeitssinn der Kinder und Jugendlichen kitzeln kann.“
In „Brennnessel-Haut“ verarbeitet sie auf der Grundlage von Gesprächen und Interviews mit den realen Personen (Kajetan Reinhardt, seine Schwester Hildegard und der spätere CDU-Politiker Heiner Geißler) und gründlicher Recherchearbeit zur Geschichte der Sinti in Baden-Württemberg, insb. in Ravensburg und Umgebung, deren Verfolgungsgeschichte im Faschismus. Anschaulich schildert sie die Etappen der Verfolgung, angefangen von Beleidigungen, über die Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben, Verhinderung von Berufstätigkeit, schließlich Ghettoisierung und Zwangsarbeit (auch der Kinder wie Kajetan) bis hin zur Deportation in die Lager, in denen viele den barbarischen medizinischen Versuchen des KZ-Arztes Mengele zum Opfer fielen.
Lemanczyk setzt den Hauptakzent der Erzählung auf die innige und unzertrennliche Freundschaft zwischen den beiden so verschiedenen Jungen und nimmt die Perspektive von Kajetan ein. Anschaulich beschreibt sie ihre Spiele, ihre Geheimnisse (z.B. wie sie am Bach eine Pistole finden) und wie sie sich gegen die Anfeindungen einiger Hitlerjungen zur Wehr setzen. Die lebendigen Schilderungen lassen vor dem inneren Auge der LeserInnen Bilder vom Leben in einem süddeutschen Dorf in den 30er Jahren entstehen: die Dorfstraßen mit Pferdewagen, Hasenställe in den Gärten, Wiesen mit wilden Blumen und Brennnesseln, zugefrorene Teiche im Winter und das Rauschen des Baches (hier: die Schussen). Sie schildert eindringlich, wie durch die immer geringer werdenden Einkünfte der Familie Reinhardt, der Hunger zum ständigen Begleiter aller Familienmitglieder wird, aber auch wie groß die familiäre Solidarität ist – das Wenige wird geteilt und die Erwachsenen, besonders die Mutter, versuchen mit allen Mitteln, ihre schlimmsten Befürchtungen vor den Kindern zu verbergen. Sie betont immer wieder, dass es nicht schlimmer kommen kann und verstärkt jeden noch so kleinen Hoffnungsfunken, wie z.B. die Unterstützung durch den Pfarrer.
Und so macht es auch die Autorin mit den LeserInnen: Sie lässt sie nicht in die tiefsten Abgründe der faschistischen Mordmaschinen in den KZs und Vernichtungslager blicken, lässt aber die tiefe Verzweiflung der Eltern und anderen Erwachsenen doch ahnen.
Nach der erzwungenen Trennung der Freunde und der Ghettoisierung der Familien im Lager Ummenwinkel, fühlt man zunehmend mit Kajetan: Seine Einsamkeit, seine Angst, seine Hilflosigkeit und der stetige Kampf ums nackte Überleben der Familie und gegen die körperliche und seelische Erschöpfung durch die Zwangsarbeit und den Hunger. Schwer zum Aushalten sind Szenen wie die, als er fast vergeblich um Medizin für den kranken Vater kämpft.
Hier und da hätte dem Roman ein wenig Straffung gutgetan, denn die vielfältigen Schreckenserlebnisse und die Gefühle der kindlichen Protagonisten dabei wiederholen sich doch in ähnlicher Weise.
Sensibel und behutsam in der sprachlichen Gestaltung und dem Umgang mit den Bezeichnungen und Benennungen der Minderheit der Sinti und Roma ist Lemanczyk ein spannender, berührender historischer Jugendroman gelungen, der zugleich zahlreiche Spuren legt zu Rassismus und Antiziganismus, der ja keinesfalls verschwunden ist.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von SRAn; Landesstelle: Hessen.
Veröffentlicht am 22.12.2021

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