Bis einer stirbt

Autor*in
Beer, Isabell
ISBN
978-3-551-58438-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Carlsen
Gattung
SachliteraturTaschenbuch
Ort
Hamburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFachliteraturFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
14,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die junge Investigativjournalistin Isabell Beer ermöglicht mit ihrem reportagehaften Sachbuch "Bis einer stirbt" einen aufschlussreichen Einblick in die aktuelle "Drogenszene Internet", wie der erste Untertitel lautet. Der zweite "Die Geschichte von Leyla und Josh" macht deutlich, dass sie dieses Vorhaben vor allem realisiert durch die reportagehafte Darstellung des Drogenlebens zweier Abhängiger, mit denen sie über einen Zeitraum von drei Jahren in ständigem Kontakt war. Josh, der eine, kommt im Alter von 19 Jahren durch eine Überdosis ums Leben, Leyla, die andere, löst sich im letzten Augenblick von ihrer Sucht. Gestützt werden diese Ausführungen durch systematische Recherchen zur entsprechenden Szene im Internet.

Beurteilungstext

"Alle Lektüre über Drogen, die ich gelesen habe, egal wie kaputt die Leute waren, egal wie abgeranzt, abgewichst - ich fand es magisch und anziehend. Und genau das soll dieses Buch bitte nicht werden." (S. 7) Das schreibt Leyla, Mitte zwanzig, heroinabhängig, in einem Chat an die Autorin. Und zunächst übt die Lektüre ihres Buches eine ähnlich fasziniernde Wirkung aus. Es dominieren nämlich überwiegend positive User-Nachrichten aus der entsprechenden Chat-Welt. Im weiteren Verlauf wird allerdings unmmissverständlich deutlich, dass Drogenkonsum nur vermeintlich eine euphorisierende Wirkung vermittelt, in Wirklichkeit aber eine einengende und elende Abhängigkeit für den Konsumenten zur Folge hat.

Dies zeigt Isabell Beer exemplarisch an den Suchtverläufen ihrer beiden Kontaktpersonen Leyla und Josh, mit denen sie über einen Zeitraum von drei Jahren in engem Kontakt bleibt. Ihre Darstellung endet mit dem Tod des erst 19-jährigen Josh durch eine Überdosis und mit dem Einstieg in den begleiteten Heroinentzug der etwas älteren Leyla. Beide Biografien sind real, werden aber so anonymisiert dargestellt, dass keine Rückschlüsse auf ihre wahre Identität möglich sind. Da die Autorin etwa im gleichen Alter ist, gestaltete sich der Kontakt zu ihnen problemlos. Zudem recherchierte sie als ausgewiesene Investigativjournalistin ausführlich in der entsprechenden Internetszene und wertete diesbezügliche Chat-Protokolle aus. Plausibel weist sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die Drogenwelt aktuell weniger real "auf der Platte" abspielt als vielmehr virtuell in speziellen Foren kleiner anonymisierter Nutzerkreise. Hier werden Tipps und Erfahrungen ausgetauscht und hierüber erfolgen auch Handel und Konsum.

Josh konzentriert sich bei seinem Drogenkonsum auf synthetische Substanzen, die er in Research Chemical Shops online bestellen kann. Diese kommen meist direkt aus Laboren, sind chemisch rein, häufig nicht verboten, weil kaum bekannt, und in ihrer Wirkung unerforscht. Zudem sind sie preiswert und gelangen auf dem normalen Postweg problemlos in die Wohnung. Über Dosierungen und Kombinationsmöglichkeiten tauscht sich Josh dann im Netz aus. Wie vereinzelt und unemphatisch solche Chats ablaufen können, mag folgender "Dialog" belegen: "Kann mir jemand sagen, was ich machen kann, hab 650 mg Tramodol in mir und kack voll ab" (S. 119). Das kommentiert ein anderer User zynisch so: "Wer'n Problem mit Abkratzen hat, soll sich halt nichts Hartes geben."(ebd)

In diesem Zusammenhang sucht die Autorin nach möglichen Ursachen für den Drogenkonsum ihrer beiden Kontaktpersonen, gelangt dabei allerdings zu keinem plausiblen Ergebnis. Am ehesten überzeugt noch die anthropologisch fundierte Selbsteinschätzung Leylas, dass der Hang zur Rauschaffinität in der menschlichen Natur zu suchen sei. Beide Probanden kommen nämlich aus Elternhäusern, in denen sie angenommen sind und die sie auch unterstützen, selbst nachdem die Eltern von deren Drogenabhängigkeit erfahren haben. Sie helfen etwa, wenn ihre Kinder gesundheitliche Probleme haben wie Wahnvorstellungen oder Bewusstlosigkeit, wenn sie Untertützung in der Schule oder in der Ausbildung benötigen bis hin zu materieller Hilfe im Rahmen ihrer Sucht.

Bei Leyla geht die Liebe ihrer Mutter sogar so weit, dass diese auf Bitten ihrer Tochter versuchsweise selbst Drogen konsumiert, um nachvollziehen zu können, welchen Gewinn ihre Tochter daraus erzielt! Diese Mutterliebe hat ein fatales Fehlurteil zur Foge: Nach ihrem eigenen Herionversuch muss sie brechen und es ist ihr insgesamt so übel, dass sie sich nicht vorstellen kann, wie man davon abhängig werden kann. Und nur durch besonders glückliche Umstände und erst im letzten Moment gelingt Leyla schließlich der Absprung von ihrer Heroinsucht, die sie im Rückblick treffend so schildert: "das ist suchen, ohne zu finden... Dieses verzweifelte Gefühl, etwas unbedingt zu brauchen, aber es nicht zu finden." (S. 211)

Erklärte Absicht der Autorin ist es vor allen Dingen, so kann man zusammenfassen, über die aktuelle Drogenszene aufzuklären und Informationen zu sicherer Nutzung und zu Hilfsangeboten zu vermitteln, statt lediglich vor dem Konsum abzuschrecken. Insofern vermittelt sie im Anhang Safer-Use-Regeln und weiterführende Informationen über die Wirkung von Drogen, gibt eine umfangreiche Liste von Hilfsangeboten an, plädiert für eine Entkriminalisierung der einzelnen Konsumenten und sieht in der aktuell geplanten Freigabe von Cannabis ein positives Zeichen der Drogenpolitik. Und in diesem Kontext sollte das zeitgemäße Drogensachbuch auch eingesetzt werden: zur sachlichen Aufklärung statt dämonisiernder Abschreckung, um möglichst viele Schicksale wie das von Josh zu verhindern!

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Diese Rezension wurde verfasst von KS; Landesstelle: Niedersachsen.
Veröffentlicht am 12.12.2022