Beinahe Herbst

Autor*in
Kaurin, Marianne
ISBN
978-3-03880-031-6
Übersetzer*in
Mißfeldt, Dagmar
Ori. Sprache
Norwegisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
235
Verlag
Arctis
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Zürich
Jahr
2019
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Oslo 1942. Die 15-jährige Ilse Stern lebt mit ihrer Familie unter den zermürbenden Bedingungen der NS-Besatzung in einer kleinen Wohnung. Vor allem sind es aber zunächst ganz andere Dinge, die Ilse und ihre große Schwester Sonja beschäftigen: die erste Liebe, der Traum von Unabhängigkeit. Doch mit dem Befehl zur Verhaftung und Deportation aller jüdischen Norweger*innen nach Auschwitz beginnt für die Familie ein schrecklicher Albtraum.

Beurteilungstext

Familie Stern, bestehend aus Mutter Hanna, Vater Isak und den drei Töchtern Sonja, Ilse und der kleinen Miriam, lebt in einem Mietshaus im Osloer Stadtteil Grünerløkka, heute als Szeneviertel der Stadt bekannt. Isak Stern betreibt eine Schneiderei, wobei ihn vor allem die älteste Tochter Sonja, 18 Jahre alt, unterstützt. Sie soll das Geschäft einmal übernehmen. Seit kein Schulunterricht mehr stattfindet, hilft auch Ilse im Laden aus. Es ist weniger die NS-Okkupation, die im ersten Teil des Romans thematisiert wird; vielmehr geht es um die Träume, Ziele und ganz persönlichen Sorgen der beiden Mädchen. Ilse wäre gerne so schön wie ihre große Schwester Sonja, die in allem so geschickt und vernünftig scheint. Außerdem ist sie in ihren Nachbarn Hermann verliebt, der sie eines Nachmittags trotz Verabredung einfach versetzt. Sonja bewundert die Unbeschwertheit ihrer jüngeren Schwester Ilse und träumt von einer Arbeit als Kostümschneiderin am Theater, einer eigenen Wohnung und Unabhängigkeit, auch von der Familie. Isak hingegen träumt nicht. Er macht sich Sorgen, geht an jedem Morgen früher in die Schneiderei, um die antisemitischen Schmierereien an den Ladenfenstern zu entfernen, damit seinen Töchtern der Anblick erspart bleibt. Er denkt darüber nach, ob sie die Flucht ins neutrale Schweden wagen sollen, kann sich aber nicht entscheiden. Die Träume der Mädchen rücken mit dem Befehl, dass alle männlichen Juden zu verhaften sind im zweiten Teil des Romans plötzlich in den Hintergrund. Isak Stern wird verhaftet und verschwindet und dadurch ändert sich in der Familie alles. Hanna Stern verlässt das Bett nur noch selten und ist kaum ansprechbar, weshalb Sonja die Verantwortung für die Familie und vor allem für die 5-jährige Miriam übernimmt. Nach einem Streit mit der Mutter Hanna verlässt Ilse wütend die Wohnung und bleibt über Nacht fort. Ein Zufall, der ihr Leben rettet, denn in ihrer Abwesenheit werden Hanna, Sonja und die kleine Miriam verhaftet und zum Osloer Hafen gebracht. Dort treffen sie Isak wieder, der von einem Monat Internierung im Lager Berg gezeichnet ist und die Hoffnung aufs Überleben verloren hat. Frauen und Männer werden getrennt, es folgen die zermürbende Überfahrt auf der „Donau“ nach Stettin und die Deportation in Zügen nach Auschwitz. Isak wird nach Ankunft im Konzentrationslager rasiert, tätowiert und in eine Baracke geschafft. An dieser Stelle endet Isaks Geschichte. Seine Gedanken, dass er nun ein Tier werden muss, um zu überleben, sind das letzte, was über ihn geschrieben steht. Hanna, Sonja und Miriam werden direkt nach der Ankunft in Auschwitz zusammen mit den anderen Frauen und älteren Männern des Transports auf einem Lastwagen zu einem Gebäude gefahren. Dort müssen sie ihre Kleider ablegen und werden in einen dunklen Raum geführt. An dieser Stelle endet auch die Geschichte von Hanna, Sonja und Miriam. Als Ilse nach Hause kommt, findet sie die Wohnung nur noch verschlossen vor und erfährt schnell, dass Mutter und Schwestern mitgenommen wurden. Durch den Einsatz von Hermann wird ihre Flucht nach Schweden vorbereitet und die Leser*in folgt Ilse auf diesem Weg bis kurz vor die Grenze. Ob sie es geschafft hat? Das letzte Kapitel beschreibt schließlich knapp, wie Ilse zwei Jahre später zurück zu ihrem alten Wohnhaus geht und dort auf Hermann trifft. Sie hat es also geschafft, hat überlebt.
Der preisgekrönte Roman (Debütantenpreis des norwegischen Kultusministeriums) beginnt anders, als die Leser*in es vielleicht bei einem Buch zum Thema Holocaust erwartet. Sie wird mitgenommen in Ilses Welt, in der es sich vorrangig nicht um die NS-Okkupation dreht. Ilse ist verliebt und unsicher, ob ihre Liebe auch erwidert wird. Unsicher, ob sie schön genug für Hermann ist. Diese Gefühle schildert die Autorin Marianne Kaurin sehr poetisch und nicht ohne Witz. Die personale Erzählsituation ermöglicht aber nicht nur einen Einblick in Ilses Gedankenwelt, sondern wechselt episodenhaft zwischen den Figuren. Die Leser*in erfährt, dass Hermann viel an Ilse denkt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, das nicht ans Licht kommen darf (er ist Fluchthelfer und Teil des norwegischen Widerstands). Der Blick in die Gedanken der vermeintlich perfekten Sonja verrät, dass diese die Unbeschwertheit ihrer Schwester Ilse beneidet und sich nach Unabhängigkeit sehnt. Der Schrecken und die Bedrohlichkeit der Situation für die Familie wird hingegen aus der Perspektive Isaks deutlich, der heimlich die Konten löscht, die Bankschließfächer ausräumt und noch damit hadert, ob die Familie fliehen soll. Die Perspektive, die am interessantesten zu sein scheint, bleibt der Leser*in hingegen verwehrt: die von Hanna Stern. Die Leser*in erfährt durch Ilse, dass die Mutter nicht mehr so unbeschwert lacht wie früher, dass das Gesicht ernst geworden ist. Die Leser*in erlebt durch die Perspektiven der Töchter, wie Hanna Stern nach Isaks Verhaftung kapituliert und immer mehr in Wahnsinn verfällt. Ahnt sie das furchtbare Ende voraus? Was geht in ihr vor? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Durch die unterschiedlichen Perspektiven erzeugt die Autorin Spannung und ermöglicht eine sehr vielschichtige Einsicht in die Familie Stern. Auch stilistisch zeugt der Roman von hoher Qualität: Während der Episoden, in denen es um die romantischen Gefühle oder Zukunftsträume der Mädchen geht, ist die Erzählung durch eine eher poetische Sprache geprägt. Verhaftung und Deportation werden hingegen nüchtern und sachlich beschrieben, was die Brutalität der Geschehnisse und die Kälte der Täter*innen verdeutlicht. Körperliche und psychische Grausamkeiten werden ebenso sachlich geschildert und in ihrer Brutalität nicht verharmlost, weshalb der Roman für Leser*innen unter 14 Jahren nicht geeignet ist. Der Roman lässt außerdem einige Leerstellen; beispielsweise bleibt das Schicksal von Ilses Vater letztlich ungewiss, auch der Tod von Hanna, Sonja und Miriam wird nicht explizit versprachlicht. Doch nicht nur, weil die Erzählungen der Figuren plötzlich enden, liegt die Folgerung nahe. Wenn historische Hintergrundinformationen herangezogen werden und vermutet wird, dass sich die Autorin an diesen Informationen orientiert hat, bestätigt sich der schreckliche Verdacht, dass die Figuren Hanna, Sonja und Miriam im Roman sterben: Der Transport auf der „Donau“ hat tatsächlich stattgefunden. Von den Ankommenden des Transports wurden 186 Männer als Häftlinge übernommen, die anderen 346 Menschen, darunter alle Frauen und Kinder, wurden direkt in die Gaskammern geschickt. Die vielen Leerstellen sind Grund und Anlass, als Erwachsene mit jugendlichen Leser*innen über diese zu sprechen und über mögliche Erklärungen nachzudenken.
Kaurins Roman ist ein literarisch durchaus anspruchsvoller, berührender, bedrückender und nachdenklich stimmender Einblick in den tragischen Verlauf des Lebens einer norwegischen Familie zur Zeit der NS-Okkupation.

Lisa Ingermann

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Ling; Landesstelle: Mecklenburg-Vorpommern.
Veröffentlicht am 14.08.2020

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