Baumschläfer

Autor*in
Duda, Christian
ISBN
978-3-407-75685-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Gusella, Anna
Seitenanzahl
196
Verlag
Beltz & Gelberg
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Weinheim
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Marius Kohlstetter ist 14 Jahre alt, als er versucht, seine behinderte Mutter vor der Ermordung durch den eigenen Vater zu retten – und selber zwar schwer verletzt die Tat überlebt, aber danach durch sämtliche Maschen des sozialen Netzes fällt. Christian Duda schafft es in diesem Protokoll eines freien Falls, die Innenperspektive eines traumatisierten jungen Menschen für die Leser*innen schmerzhaft und intensiv sichtbar zu machen und gibt damit vor allem den (überlebenden) Opfern eine Stimme, die sonst so oft hinter dem bagatellisierenden Begriff „Familiendrama“ ins Nirgendwo verschwinden.

Beurteilungstext

Dass dieses Buch mich mitnehmen würde, war mir schon vorher klar. Und auch wenn ich es an vielen Stellen aufgrund der immer präsenten Ahnung, dass es nicht gut ausgehen würde, als schwer aushaltbar empfunden habe, dem jungen Protagonisten Marius immer tiefer in die Einsamkeit zu folgen, möchte ich diese extrem berührende Leseerfahrung auf keinen Fall missen! Es ist der dritte Roman von Christian Duda und ich bin auch dieses Mal begeistert – von seiner sprachlichen Kreativität, seinem Mut, sich den schwierigen, prekären und schmerzenden Themen unserer Zeit zu widmen. Dieses Buch kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus – und doch legt es den Finger direkt in die Wunde hinein. Mensch kommt nicht drumherum, darüber nachzudenken, welchen Teil der Verantwortung der*die Einzelne an einem Schicksal wie dem von Marius (und auch den anderen Familienmitgliedern) trägt.

Die Story: Marius schleppt sich am 24. Januar 2014 mit letzter Kraft in die gegenüberliegende Versicherungsagentur und versucht, Hilfe zu holen, um seine Mutter, auf die von seinem Vater 33 Mal mit einem Küchenmesser eingestochen wurde, doch noch zu retten – vergebens. Als er im Krankenhaus aufwacht und sein eigener Körper wieder einigermaßen funktioniert, sollen Marius und Esther (seine 12-jährige Schwester) in ein Heim in ihrem alten Kiez umziehen. Dort findet er zunächst in seinem Zimmernachbarn Boris eine Art Verbündeten, aber schon bald kommt Marius mit den emporkommenden Erinnerungen nicht mehr allein zurecht (und seine Schwester ist ihm auch vorher schon nicht nah genug gewesen, um nun diesen Horror mit ihm zu teilen). Die Leser*innen bleiben durchgehend dicht an Marius dran und sitzen kurz dem Gerichtsprozess bei, während dem deutlich wird, dass Marius sich selber Schuld zuschreibt, weil er die Mutter dazu überredet hatte, die Tür noch einmal für den Vater zu öffnen.
Jürgen Kohlstetter wird in diesem Roman aber nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig geschenkt. (Genau) ein Jahr nach der eigenen Tat bringt er sich im Gefängnis um und sowohl Marius, als auch seine Schwester Esther, erfahren später nur beiläufig davon. Marius flüchtet sich zunehmend in sein kindliche Gedankenwelt, zieht seinen geklauten Kapuzenpulli nicht mehr aus und zeichnet gewaltvolle Comics, mit denen er einen gewissen „Fame“ bei den anderen Jugendlichen im Heim erlangt. Als er dann aber von den dortigen Sozialarbeitenden aufgefordert wird, über seine Gewaltphantasien zu reden, er die Kapuze abnehmen soll und letzten Endes auch Boris nicht mehr sein Zimmernachbar sein darf, ist „Bleiben“ für Marius keine Option mehr. Er ist nun 16 und lebt fortan auf der Straße. Zunächst ist es ein Spielplatz, auf dem er haust, gefundenes oder geklautes Essen, von dem er (über)lebt. Später dann bricht er u.a. in ein Gartenhäuschen ein.
Er lässt sich auch von hartnäckigen Streetworker*innen nicht dauerhaft „bekehren“ und kann sich offensichtlich nicht mehr ausreichend um seinen eigenen Körper kümmern – der stinkt und fault vor sich hin, während Marius sich zunehmend in sein Inneres zurückzieht. Als er einem Kind das Smartphone klaut, wird er einem Jugendrichter vorgeführt und die Obdachlosenhilfe hofft auf eine Verhaftung, um Marius dem Winter von der Straße zu entziehen. Aber auch hier „versagen“ die gesellschaftlichen Strukturen: Der Richter stimmt nur einem psychiatrischen Gutachten zu – welches bescheinigt, dass Marius nicht psychisch krank, sondern traumatisiert ist (Oh Wunder!) – und er nicht zwangseingewiesen werden kann. Ab dem dritten Kapitel („Vollzug“) erzählt sich die Geschichte zunehmend über die elliptisch aneinandergereihten Gedanken von Marius, die fett gedruckt und in abgehackten Sätzen das Gefühl verleihen, mensch befände sich direkt in seinem Kopf. Er lebt nun in einem Pappkarton auf einem Hinterhof – nicht unentdeckt, teilweise von Nachbar*innen unterstützt und versorgt, aber am Ende wird er auch von dort vertrieben. Er führt einen harten Kampf – gegen die Kälte, die Stimmen in seinem Kopf, die von Verschwörungen reden, gegen die Erinnerungen, die ihn fertig machen – den er (die Leser*innen erahnen es von der ersten Seite an) aber nur verlieren kann.
Wenn Medien über sogenannte „Familiendramen“ berichten, bei denen immer ein Mann gegenüber einer Frau und/oder Kindern gewalttätig wird, verbirgt sich hinter diesem Begriff meistens eine lange Leidensgeschichte, an dessen Ende u.a. der Femizid (Ermordung einer Frau auf Grund ihres Geschlechts) steht. Dadurch, dass die Dinge so selten beim Namen genannt werden, entsteht der falsche Eindruck, es handle sich um nicht vorhersehbare Einzelschicksale. Auch in „Baumschläfer“ lässt sich erahnen, dass Marius Vater schon lange (oder schon immer?) ein Problem mit dem Umgang mit Wut hatte und der „Grund“ für seine Eskalation ist wie bei so vielen Femiziden der lange gesuchte und nun endlich realisierte Trennungswunsch der Mutter.
Christian Duda schreibt im kurzen Nachwort, er habe „sich ein Leben und einen Tod zurechtgelegt“ und dieses Geschehen unterteilt er in drei Akte. Er betont ausdrücklich die Fiktion, auch wenn die Fakten, die ihn zu dieser Geschichte geführt haben, absolut real sind. Das Ganze liest sich wie eine Mischung aus Polizeibericht (mit vielen Unterpunkten) und den Gedankensträngen des Protagonisten, die die Leser*innen in immer tiefere Schichten der „Problematik“ führen. Und auf einmal wird mensch unweigerlich klar, dass obdachlose Menschen sich wahrscheinlich nicht deshalb nicht waschen, weil sie nicht wollen, sondern weil sie aus unterschiedlichsten Gründen nicht können.
So rough wie die Kohlestriche von Anna Gusella auf dem Cover – so ist auch dieses Buch. Es hämmert die kurzen, prägnanten Sätze direkt in meinen Kopf, um dort noch lange nachzuhallen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von nico; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 23.01.2023

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