Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Namen und Orte: Namen

Autor*in
Proust, Marcel
ISBN
978-3-86873-699-1
Übersetzer*in
Wilkensen, Kai
Ori. Sprache
Französisch
Illustrator*in
Heuet, Stephane
Seitenanzahl
48
Verlag
Knesebeck
Gattung
Comic
Ort
Berlin
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
19,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Name einer Stadt oder eines Ortes genügen Marcel, um sich an die Zeit seiner Jugend oder in ferne Länder zu träumen. Die beschwörende Kraft der Eigennamen – ganz gleich ob von Personen oder Orten – lässt
den Protagonisten einen Sommers in Balbec, einen Frühling in Florenz, einen Herbst in, und einen Winter um Paris imaginieren.

Beurteilungstext

Anfangs hatten die Liebhaber des größten französischen Romanciers dem vorliegenden Projekt Heuets skeptisch gegenüber gestanden – für die Bildungselite in Jugendstilvillen war es gar ein Schock: Da hat es doch tatsächlich jemand gewagt, sich an Marcels Prousts ""À la recherche du temps perdu"" zu vergreifen, und aus dem heiligsten Text des „Fin de Siecle“ - noch viel heiliger als Rilkes „Malte“ oder Th. Manns „Zauberberg“ - eine Bildgeschichte zu machen. Weit ab vom Originaltext, gekürzt, verkürzt und mit bunten Bildchen versehen. Einen sogenannten Comic eben.

Das war bereits im Jahre 1998. Der unverschämte Kerl hieß und heißt Stéphane Heuet, 1957 in Brest geboren, seines Zeichens Matrose a.D. und freiberuflicher Comiczeichner. Und eben dieser entdeckte mit 35 Jahren das Werk Marcel Prousts. Bis zu diesem Geburtstag hätte er die Texte des französischen National-Literaten nur mit spitzen Fingern angefasst. Doch seitdem gilt ihm all seine Liebe, und ihm allein hat er sich verschrieben, indem er seinen großen Roman-Zyklus nach und nach in Comics ""übersetzt"", mit dem Ziel, das Werk (wieder) für ein breites Publikum verfügbar zu machen. Denn als Buch erleidet es seit geraumer Zeit das gleiche Schicksal wie etwa Tolstois „Krieg und Frieden“, Balzacs „Menschliche Komödie“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“: Gerne zitiert und gelobt, verstaubt es ungelesen in Bibliotheksregalen, da diese Texte nur mit großer Mühe, literarischer Vorkenntnis und enormen Zeitaufwand zu lesen sind.
Heuets Comic-Adaption der „Recherche“ erscheint in mehreren Bänden. Gerade ist der sechste Band „Namen und Orte“ auf deutsch erschienen. Und auch hier ist der Medientransfer auf so wunderbare Weise gelungen, dass selbst die missgünstigsten Kritiker verstummen mussten. Schnell haben die eingefleischten Proustianer – aber auch viele Erst-Leser – gemerkt, welch literarische und graphische Kostbarkeit ihnen in den Schoß gefallen ist.
Die essayistisch-imaginativen Texte des Originals sind genial adaptiert und in träumerische Bildfolgen umgesetzt. Ganz in der Tradition der franko-belgischen ligne claire agieren stilisierte Figuren vor teilweise detail-realistischem Hintergrund. Der insgesamt textlastige Comic ist eng an der literarischen Vorlage orientiert – und geht doch über dieselbe hinaus. Denn alle Personen, die in der ""Recherche"" eine so bedeutenden Rolle spielen, sehen wir jetzt „leibhaftig“ agieren, in all ihrer Eindringlichkeit. Wir bekommen eine Vorstellung von der aristokratischen Würde der Mutter, der praktischen Lebensklugheit der Großmutter, der strengen Geradlinigkeit des Vaters, der nervigen Hypochondrie Tante Léonies, der frühreifen Laszivität Gilbertes, der einfühlsamen Großmütigkeit Swanns und und und... Alles gesehen mit dem wachen und tiefblickenden Augen Stéphane Heuet.
Darüber hinaus ermöglichen Heuets gekonnt assoziativ verknüpfte Wort-Bild-Beziehungen die Gleichzeitigkeit von räumlicher und zeitlicher Erfahrungen: Während der reine Fließtext des Originals notwendigerweise den Erinnerungsort immer vom Inhalt des stream of consciousness seines Protagonisten trennen muss, macht das Medium des Comics die Gleichzeitigkeit beider Erfahrungen möglich. Wir sehen Marcel in Raum & Zeit seiner synästhetischen Empfindung verortet – und zugleich diese mit dieser Empfindung verbundene Erfahrung; d.h. wir sehen den 35-jährigen Marcel noch das in Lindenblütentee aufgeweichte Stück Madeleine in Paris in den Mund schieben – und zugleich die Imagination seiner Kindheit in Combray 25 Jahre zuvor... Nach dem Credo Prousts nehmen „selbst unter einem ganz realem Gesichtspunkt […] die Gegenden, an die wir uns erinnern, in jedem Augenblick unseres Lebens sehr viel mehr Raum ein als die Gegend, in der wir uns tatsächlich befinden.“ Im vorliegenden sechsten Band der Reihe sind es die Eigennamen von Orten und Personen die als Statthalter melancholisch-sentimentaler Sehnsucht herhalten müssen: Balbec & Florenz; der Park der Champs-Élysées & der Bois de Boulogne; die Rue Royale & der Place de la Concorde. „Die Orte, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raumes zugehörig, in der wir sie denken, weil es bequemer ist – die Erinnerung an einen bestimmten Ort ist nur wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick.“
Aufgrund dieser sprunghaft imaginativen Textvorlage Prousts ist auch die Bildfolge des Comics in analogen Rhythmus gesetzt: Zahlreiche Szenen- und Perspektivwechsel von Bild zu Bild variieren mit – auf dem ersten Blick – paradoxen Bildfolgen. Handlung und Dialog gibt es kaum – beinahe nur Reflexion des Erzählers. Insofern rückt Heuets Comic-Adaption auch nah an das Medium Bilderbuch, denn die Geschichte kann nur über den Text verstanden werden: die Bilder liefern in erster Linie einen ästhetischen Mehrwert und verstärken die Empfindungen des Rezipienten.
Zusätzlich überrascht der aktuell erschienen 6. Band zusätzlich durch:
1. Eine stilisierte Stadtkarte von Paris auf der Umschlagseite – so dass der Leser die Erinnerungen Marcels auch räumlich verfolgen kann; und
2. Ein illustriertes Glossar aller Personen, Orte und Gegenstände die im ersten Band der „Recherche“ eine Rolle spielen. Dies ermöglicht auch dem vergesslichen Leser, Inhalte und Zusammenhänge zu rekonstruieren.
Insgesamt ist die gesamte Reihe vorbehaltlos zu empfehlen und gehört als voll- und mehrwertige Adaption des Klassikers in jede Hausbibliothek. Ein Meisterwerk!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von OWA.
Veröffentlicht am 01.01.2010

Weitere Rezensionen zu Büchern von Proust, Marcel

Proust, Marcel

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Im Schatten junger Mädchenblüte – Im Umkreis von Madame Swann. Teil I.

Weiterlesen