ArabQueen oder Der Geschmack der Freiheit

Autor*in
Balci, Güner Yasemin
ISBN
978-3-10-004814-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
319
Verlag
Gattung
Ort
Frankfurt
Jahr
2010
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Mariam und ihre jüngere Schwester Fatme wachsen in der türkisch-arabischen Großfamilie im Wedding auf. Ihr Vater, die Brüder, Vettern und Onkels sind Gralswächter ihrer Jungfräulichkeit, die Clan-Frauen werden fast lückenlos kontrolliert und fügen sich diesem Familienzwang. Der Vater ist ein Gewalt tätiger Mann, der keinerlei Ideen zulässt, keine Freiheiten gestatten kann. Als Mariam verheiratet werden soll, zieht sie die Notbremse und flieht aus der Familie.

Beurteilungstext

Der Autorin gelingt es, ein Beispiel loses Szenario des Mechanismus´ einer islamischen Großfamilie zu entwickeln. Untrennbar miteinander verknüpft sind Geborgenheit und Liebe mit Gewalt und Freiheitsberaubung. Das Familienleben, das hier vor Augen geführt wird, ist nur in der Erinnerung Mariams als harmonisch zu bezeichnen. Mit zunehmendem Alter überwiegen die Gewaltausbrüche des Vaters, der unkontrolliert um sich schlägt und das zu verteidigen versucht, was er als Ehre versteht. Das Gewaltpotential der gesamten Familie ist so enorm, dass der bürgerliche Leser zunächst von der Aggressivität der Sprache der Jugendlichen untereinander schockiert wird. Noch deutlicher wird das durch die Figur der Lena, der Freundin Mariams aus bürgerlich-unkonventionellem Hause, die erst verunsichert wird, dann aber schnell die Vitalität und Fröhlichkeit Mariams erkennt und hartnäckig auf der Freundschaft besteht. Die Familie sieht “die Deutsche” mit Misstrauen, verbietet letztlich jeden Kontakt mit ihr. Die Autorin personalisiert so die Angst der Community vor dem Fremden in der Fremde. “Wir brauchen keine Fremden, wir brauchen kein Kino, wir brauchen keine Freunde. Wir haben die Familie. Die ist das Wichtigste.” Dieser Grundsatz verhindert jeden Kontakt, jede Auseinandersetzung, jedes Einleben in die Gesellschaft, in die sie eingebettet sind. Ein Ausbund der Ängstlichkeit ist die Mutter, die nach vielen Jahren in Berlin immer noch nicht richtig Deutsch kann, Analphabetin ist und überhaupt nicht versteht, was die Kinder in der Schule sollten, wo sie doch dringend in der Familie gebraucht würden. In der Schule sind zudem immer auch Jungen, die den Mädchen nur Übles wollen. Mariam versucht zaghaft einige Ausbrüche aus den Zwängen, aber fast alle gehen schief, weil immer irgendjemand aus der riesigen Community sie erkennt und das sofort den Eltern meldet. Immer sind Schläge die Folge.
Erst als Mariam die Hauptschule verlässt (und das eigentlich erst danach realisiert), ändert sich die Situation. Die deutschen Behörden melden sich und um weiter Hartz IV bekommen zu können, soll Mariam arbeiten. Eine Weile kann die Familie jedes Angebot ablehnen, dann kommt ein Stellenangebot in einer reinen Mädchenorganisiation, die sogar der Vater akzeptieren kann. Deren Leiterin erkennt aber Mariams Situation und handelt souverän, als sie mitbekommt, dass Mariam mit 18 Jahren verheiratet werden soll, das aber nicht will, und ermöglicht ihr die Flucht, erst in den Jugendnotdienst und dann in eine andere Stadt.
Allen ist bewusst, dass eine Flucht aus dem Clan für Mariam ein Sprung in eine andere Welt ist. Sie muss alles aufgeben, was mit der Familie zusammen hängt, es gibt keine Möglichkeit zurückzukehren, ohne das Gefängnis und die Gewalt auf sich zu nehmen. Und wenn ein Mensch 18 Jahre lang ohne Unterbrechung eng in der Familie lebte, praktisch nichts außerhalb kennen lernen konnte, ist das Gefühl mit Heimweh kaum noch zu beschreiben, es ist ein riesiges emotionales Loch, das erst langsam sich wieder mit neuen Inhalten füllen kann. Und immer in der Gewissheit, nie wieder mit einem Familienmitglied reden zu können.
Mariam wird dabei helfen, dass sie schon früh erkannte, dass das Reden über Probleme oder Gefühle in ihrer Familie ohnehin einfach unmöglich ist. Es gab immer nur Anpassung und Alltag oder Gewaltausbrüche, wenn jemand dagegen verstoßen hat und danach war wieder alles in Ordnung. Bis zum nächsten Ausbruch. Geredet wurde nicht. Und mit den Eltern wird sich das auch nie ändern.
Güner Yasemin Balci beschreibt die Welt der Migranten-Großfamilien (und benennt diesen Begriff gleich als verharmlosend, weil er Geborgenheit vorspiegele) schonungslos und dennoch so, dass sie keine Schuld zuweist, sondern der Leser nachvollziehen kann, dass die einzelnen Mitglieder gar nicht anders können, zu sehr sind sie Produkte ihrer eigenen Erziehung. Da muss jeder für sich entscheiden, ob er den gewaltigen, folgenreichen Schritt macht und dazu stehen kann, den Mariam begeht. Die Macho-Welt der Männer (deren Hirn, wie die Schwestern sagen, in ihrem Pimmel steckt) wird aber auch durch die Frauen bestärkt, die sich ihrem Machtanspruch beugen, sich allenfalls kleine Freiheiten gönnen, während sie die sexuelle Freiheit der Männer zwar beschimpfen, nicht aber etwas dagegen setzen. Machtausübung hat eben auch immer zwei Seiten.
Mariam ist das Porträt einer Freundin der Autorin, die in Wirklichkeit den Schritt in die Freiheit nicht geschafft hat. Balci setzt hier aber ein Zeichen, das anderen Mädchen und jungen Frauen Mut machen soll, einen Schritt in die richtige Richtung zu machen. Diese Frauen brauchen auch die Unterstützung ihrer Freundinnen und Bekannten; ganz alleine kann man das nicht schaffen. Und damit es auch eine Anlaufstelle gibt, sind im Anhang 15 Adressen in ganz Deutschland genannt, an die man sich wenden kann.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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