An Großvaters Hand

Schlagwörter

• Historisches
• Politik

Teaser

Chen Jianghong erzählt in seinem neuen Bilderbuch von seiner Kindheit in China. In Worten und Bildern bietet er einen Einblick in die seltsame und fremde Welt der Volksrepublik in den 1960er und 70er Jahren. Es ist eine Reise in eine vergangene Zeit und eine fremde Kultur, die aber auch überraschende Momente des Vertrauten bereit hält.

Beurteilungstext

Der kleine Chen lebt in China. An der Hand des Großvaters erobert er seine Welt. Gemeinsam mit den Großeltern, den Eltern und den beiden Schwestern lebt er in einer dunklen Kellerwohnung. Sein Leben ist geprägt von Armut und von den alltäglichen Aufgaben und Begegnungen.
Chen Jianghong erzählt keine Geschichte im klassischen Sinn. Es sind eher Momente einer Kindheit, von denen er berichtet. Es sind die Lebensumstände, die er scheinbar unsystematisch in Worten und Bilder beschreibt. Es sind die Beziehungen, von denen er erzählt. Und es sind auch die gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungen der Mao-Ära, die bei ihm als Teil seiner Kindheit zur Sprache kommen. Besonders die Kulturrevolution und die damit einhergehenden Säuberungen und Umwälzungen, die Vernichtung der überlieferten Kultur und die ganz persönlichen Schicksalsschläge geraten dabei in den Blickpunkt. So verschwindet Chens Vater jahrelang zur Umerziehung in einem Arbeitslager, die geliebte Nachbarin Frau Liu wird öffentlich gedemütigt und deportiert und die Großmutter muss - aus unerfindlichen Gründen - kurz nach dem Tod ihres Mannes auch noch die Hühner töten, die ihr der einzige Trost im Leben schienen.
Doch Chen wertet diese Veränderungen nicht. Er beschreibt sie lediglich als Teile seiner Kindheit, die ebenso ganz vertraute Momente, wie das Murmelspiel in der Pause oder die Langeweile in der Schulstunde, bereit hält. Die Wertung steckt in den Bilder, in den Gesichtern der Protagonisten. Besonders sein eigenes Gesicht, das allzu oft tränenüberströmt dargestellt wird, sagt mehr über die Bedeutung der beschriebenen Erlebnisse für den jungen Chen aus. So wird der Leser und Betrachter gezwungen, sich ein eigenes Bild der großen Kulturrevolution zu machen. Chen Jianghong gelingt es damit, die typischen groben Vereinseitigungen geschichtlicher Darstellungen zu vermeiden und seinen Lesern einen differenzierten, aber subjektiven Einblick in sein Heimatland zu gewähren. Es ist eben sein Blick auf die Welt, und der ist nicht historisch-politisch wertend, sondern er spiegelt das individuelle Erlebnis des ideologisch noch unbedarften Jungen wider, dem es weniger um den Klassenkampf, als um sein Leben und seine unmittelbare Umwelt geht.
Chen Jinaghongs großformatiges Bilderbuch "An Großvaters Hand" ist einerseits ein beeindruckendes Selbstzeugnis des Autors. Die vorsichtig kolorierten Zeichnungen und die Aufteilung der Seiten erinnert eher an ein altes Fotoalbum, als an eine erzählte Geschichte. Im Spannungsfeld von Bild und Text treten viele Widersprüche und Irritationen zu Tage, die ein weiteres Nachdenken und Erforschen der Thematik nahe legen. Somit ist das Buch andererseits nicht nur das Selbstzeugnis eines Autors, sondern es wird auch zu einem Stück Zeitgeschichte, das eine Brücke zu den größeren Zusammenhängen des weltpolitischen Geschehens schlagen helfen kann.