"Alodia, du bist jetzt Alice!" Kinderraub und Zwangsadoption im Nationalsozialismus

Autor*in
Engelmann, Reiner
ISBN
978-3-570-31268-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
238
Verlag
cbj/cbt
Gattung
Taschenbuch
Ort
München
Jahr
2019
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
9,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Alodia, du heißt jetzt Alice!“, das sagt eine strengblickende Aufseherin zu der erst 4-jährigen Alodia Witaszek im Kinderheim Kalisz, wohin sie und ihre jüngere Schwester Daria über eine Zwischenstation im sog. „Kinder- und Jugendverwahrlager“ im Ghetto Litzmannstadt gebracht wurden. Sie dürfen jetzt nur noch Deutsch sprechen, denn die beiden blonden Kinder sind für das sog. „Germanisierungsprogramm“ der Nazis für polnische Kinder vorgesehen.

Beurteilungstext

Reiner Engelmann hat die mittlerweile über 80jährige Alodia Witaszek getroffen und auf vielen Recherchereisen umfänglich zum Thema Kinderraub der Nazis recherchiert. Sein faktenreiches erzählendes Sachbuch beruht darauf: In vier Teilen erzählt er nicht immer chronologisch, wie es den Kindern Alodia und Daria und ihren Eltern im von den Nazis besetzten Polen ergangen ist: Der Familie mit fünf Kindern wird das Haus genommen, sie hausen seit 1939 in einer 1-Zimmer-Wohnung. Die Widerstandsgruppe, in der der Vater Franciczek aktiv ist, wird 1942 verraten und alle Mitglieder verhaftet und barbarisch ermordet. Die Mutter Halina wird kurz darauf von der Gestapo verhaftet und schließlich nach Auschwitz deportiert, was sie nur durch außerordentliches Glück überlebt. Die älteren Mädchen und der jüngste Sohn Krysztoph überleben bei einem Onkel. Alodia und Daria werden für den verbrecherischen rassistischen Kinderraub der Nazis missbraucht:
„Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann.“ (SS Reichsführer H. Himmler 1938, S. 53) Man schätzt, dass es 200000 Kinder von eins bis zwölf Jahren aus den besetzten Gebieten betraf. Den Kindern wurde ihre Identität genommen bzw. verschleiert und nach Aufenthalten in verschiedenen Lagern kamen sie in eines der Lebensborn-Heime, wo sie als angebliche Waisenkinder, an „arische“ Eltern vermittelt wurden.
So ergeht es Alodia und Daria, die im April 1944 von verschiedenen Familien aufgenommen werden: Alodias neue Mutter bemüht sich nach Kräften ihr ein neues Zuhause zu geben, was ihr wohl auch gelingt. Zum Beweis des dokumentarischen Charakters des Buches führt Engelmann die Erzählungen von Alodia und Fotos aus der Zeit in der Familie Dahl in Stendal an. Von der erstaunlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen den zwei Müttern nach der Rückkehr der Kinder in ihre Ursprungsfamilie, die für alle Beteiligten nicht einfach war, scheint Engelmann beeindruckt zu haben. Davon erzählt er ausführlich, sehr berührend und anschaulich im Teil I. Nach vielen Briefen kommt es 1969 zu einer ersten persönlichen Begegnung, die für die Zukunft neue Horizonte eröffnet: Die Mütter werden zu Freundinnen.
Engelmann übernimmt weitgehend die Sicht und die Wahrnehmung der Zeitzeugin Alodia, manchmal mit einer etwas iritierenden Überidentifikation, wenn er beispielsweise die Adoptivmutter unkritisch „Mutti“ nennt. Insbesondere die Teile, die von ihr nicht selbst bewusst erlebt oder erinnert werden konnten (wie z.B. die Erlebnisse der Mutter im Lager, auf dem Todesmarsch oder die Suche nach den Kindern), haben einen dokumentarischen Charakter, gestützt auf historische Quellen, die aber leider nicht angegeben sind.
Engelmann ruft in seinem Nachwort dazu auf, sich für das Recht und das Wohl von Kindern und insbesondere gegen Kinderraub zu wehren: Man denke nur an die Verschleppung von jungen Mädchen durch die Terrororganisation Boko Haram in Nigeria in den letzten Jahren oder die Verschleppung von tausenden von Kindern durch die faschistische Militärjunta in Argentinien (1976-1983).
So ist seine dokumentarische Erzählung -durch ein umfangreiches Glossar und Namensverzeichnis ergänzt – ein weiterer wichtiger Beitrag für das Erinnern an die Verbrechen der Nazis und für den aktiven Kampf gegen Neonazis, Faschismus und Rassismus.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von SRAn; Landesstelle: Hessen.
Veröffentlicht am 27.12.2019

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