1984.4

Autor*in
Kerr, Philip
ISBN
978-3-499-21857-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe-Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
319
Verlag
Rowohlt
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Reinbek
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Im Jahr 2034 ist die Welt überbevölkert und die Ressourcen sind mehr als knapp. Die Regierungen setzen daher auf das freiwillige Euthanasie-Programm: Alte und kranke Menschen sollen sich freiwillig „einschläfern“ lassen. Wer das tut, nimmt die Last von der Gesellschaft und handelt somit zum Wohl aller anderen. Wer sich verweigert, auf den wird der Senior Service (SS) angesetzt.

Beurteilungstext

Der Senior Service ist eine Art Elite-Sniper-Truppe aus skrupellosen Jungen und Mädchen, die oft noch nicht mal dem Teenageralter entwachsen sind. Unter ihnen ist auch die sechzehnjährige Florence. Stolz erfüllt sie, die aus der Arbeiterklasse stammt, ihren Militärdienst. Sie trainiert, sie marschiert, sie schießt für den Staat und sie hinterfragt nicht. Ihre Zielobjekte sind die flüchtigen und damit kriminellen „Altersschwachen“, die die SS eliminiert. Ab wann man als altersschwach gilt und sich folglich dem Plan der freiwilligen Euthanasie (PFE) unterziehen muss, das bestimmt ein Scan, den alle Menschen im Alter von 50 Jahren machen müssen. Auch Florence` Mutter, geboren im Jahr 1984.4, ist jetzt 50. Seit einiger Zeit vergisst sie oft Sachen. nun stellt ihr Scan fest: Ihr PFE ist nur noch wenige Monate entfernt. Florence ist geschockt und beginnt, das System zu hinterfragen. Sie trifft auf den gleichgesinnten Eric, verliebt sich und startet ihre ganz eigene Revolution.
Als der britische Autor Philip Kerr 2018 starb, da lag das Manuskript zu 1984.4 schon drei Jahre in seinem Schreibtisch. Jetzt ist posthum der Roman erschienen, der Orwells düstere Vision über einen totalitären Überwachungsstaat adaptiert und ihn mit den technischen Mittel und den Themen der Gegenwart ausstattet. Provokant, speziell und diskutabel nennt ein Rezensent 1984.4, und dem kann hier nur zugestimmt werden.
Provokant ist der Roman vor allem in der von Kerr gekonnt geknüpften Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und (einer sehr nahen und beängstigenden) Zukunft: mit Euthanasie oder SS werden Begrifflichkeiten aus dem Dritten Reich in ein zukünftiges Parallel-Europa integriert, in dem fast täglich Bombenattentate von unterdrückten Religionsfanatikern verübt werden und die Schweiz das einzige Land ist, dass die Euthanasie verbietet.
Als speziell erweist sich besonders Kerrs Schreibstil. Eigenwillig ist er, irgendwie nüchtern und pathetisch zugleich: „Und bevor sie es merkte, brach es aus ihr heraus: «Ich hasse Winston! Das denke ich.» «Mann, du bist vielleicht mutig», antwortete Eric. «Ich bewundere dich, dass du das einfach so aussprichst. Und ich schäme mich, selbst so ein Feigling zu sein, Florence. Dass du das geschafft hast, es vor mir auszusprechen! Denn ja, es geht mir genauso, verstehst du. Ich hasse ihn. Ehrlich gesagt, ich verachte ihn.» (S. 186f.) Auch Kerrs ungewohnt schnelle Handlungsentwicklung trifft sicher nicht jeden Geschmack: Florence und Eric kennen sich an der Stelle dieses flammenden Gesprächs noch nicht einmal eine Stunde. Kurz vorher war Florence noch mitten in einem SS-Einsatz. Und wenige Minuten nach diesem Geständnis werden sie sich ihre Liebe schwören und Revolutionspläne schmieden. Beide Aspekte erschweren es uns, eine Beziehung zu Florence und zu den anderen Charakteren aufzubauen. So nah und erschreckend bekannt uns Kerrs Zukunftswelt doch oft vorkommt, so wenig nahbar und sympathisch wirken die Menschen, die sie bevölkern. Wir möchten uns nicht mit ihnen identifizieren, uns vielleicht sogar eher distanzieren – so macht das Lesen von 1984.4 auf jeden Fall keinen Spaß.
Diskutabel ist nun, dass Kerr vielleicht gar nicht wollte, dass uns seine Protagonisten sympathisch werden. Die Werte des Staates sind: „Konformität, Homogenität, Uniformität, Solidarität“. Individualität und Gefühle werden unterdrückt und bestraft. Hier sprechen und handeln Menschen, die es also nie gelernt haben, sich als Individuum zu fühlen und als solches ihre Gefühle auszudrücken. Wie weit weg sind wir, im Jahr 2021, noch von diesem Zukunftsszenario? Was kann so passieren, was wird ganz anders sein, auch bezogen auf alle anderen Aspekte des Buches? 1984.4 bietet letztendlich mehr als ausreichend Material zum Nachdenken und Diskutieren und kann Lehrer*innen und Schüler*innen, die sich an das Buch herantrauen, sicher in zahlreichen Unterrichtsstunden, Aufsätzen, Gesprächsrunden…. beschäftigen. Der Verlag empfiehlt den Roman ab 13 Jahren, das ist ambitioniert, kann aber vor allem zusammen mit Erwachsenen und bei guter Vorbereitung und Begleitung der Lektüre funktionieren. Und dann macht das gemeinsame Diskutieren von Möglichkeiten, das Abwägen zwischen und Bewusstwerden über Realität und Fiktion auch irgendwie Spaß.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von SJ; Landesstelle: Thüringen.
Veröffentlicht am 01.04.2021

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