1984.4

Autor*in
Kerr, Philip
ISBN
978-3-499-21857-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe-Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
320
Verlag
Rowohlt
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,00 €
Bewertung
nicht empfehlenswert

Teaser

Ein dystopischer Roman über das England einer nahen Zukunft, das von einer manipulativen Diktatur beherrscht wird. Florence, erst eine überzeugte Anhängerin des Systems, wandelt sich zur Kämpferin dagegen.

Beurteilungstext

Das Jahr 2034.4 auf der WH1, früher bekannt als England. Die sechzehnjährige Florence hat sich in der "Burg" beworben, um sich zur RUV, zur "Ruhestandsvollstreckerin" ausbilden zu lassen. Sie ist glücklich, dass sie aufgenommen wurde und beweist schnell, dass sie zu den besten Schülerinnen gehört. Auch das Leben im Internat und die Gemeinschaft mit den anderen Schülern, alle in etwa im gleichen Alter, genießt sie. Zweifel an dem "Beruf", für den sie geschult wird, hat sie zunächst nicht. Sie wird gezielt darauf trainiert, alte Menschen aufzuspüren und zu exekutieren - denn nach der herrschenden Ideologie sind ältere und vor allem kranke Mitbürger nutzlos und eine Belastung für die von Unterversorgung und Überbevölkerung geplagten Gesellschaft. Über Fünfzigjährige müssen sich einem Gesundheitsscan stellen, bei welchem diagnostiziert wird, wie lange sie noch in physischer und vor allem psychischer Gesundheit leben werden. Nachdem sie diesen Zeitpunkt erreicht haben, werden sie gedrängt, sich freiwillig in den "Ruhestand" zu begeben - ein Euphemismus für ein Euthanasieprogramm, durch das sie getötet werden. Diejenigen, die sich dem zu entziehen versuchen, die sich verstecken und tarnen bzw. die zu fliehen versuchen, werden gejagt und gnadenlos eliminiert. Für diese "Arbeit" werden ausschließlich junge, beeinflussbare Menschen zwischen 16 und 21 Jahren herangezogen, denen die anderen Menschen mit einer Mischung aus Furcht und Respekt begegnen.
Florence hat wenig emotionale Bindungen zu ihrer Familie und fühlt sich berufen, eine RUV zu werden. Ihre Intelligenz, ihre körperlichen Fähigkeiten, ihre Reaktionsschnelligkeit und ihre Gewissenlosigkeit lassen sie schnell zu einer der besten Schülerinnen werden. Auch die Verantwortlichen des "Senioren Service" werden auf sie aufmerksam und planen, ihr bald eine Führungsposition zukommen zu lassen. Sie fühlt keine Zweifel; auch die lückenlose Überwachung aller Menschen durch die "Wristpads", die jeder tragen muss, empfindet sie als normal. Erstes Unbehagen stellt sich ein, als Aaron, den sie bewundert, bei einem Einsatz getötet wird - nur das Mädchen hat bemerkt, dass ein Konkurrent aus dem eigenen Trupp ihn erschossen hat. Dass Neid und Konkurrenzkampf vor der scheinbar eingeschworenen Einheit nicht haltmachen, verunsichert sie. Zu einem Umdenken kommt es, als zum einen ihre Mutter ihr eröffnet, dass ihr Gesundheitszustand sie schon bald zwingen wird, sich töten zu lassen; zum anderen als sie Eric kennenlernt, der ganz anders als ihre Kameraden ist und der sie zum Nachdenken und zur Kritik an der bestimmenden Ideologie bringt. Dass sie sich in ihn verliebt, beschleunigt den Wandlungsprozess in eine Oppositionelle. Sie kann mit Erics Hilfe ihre Mutter retten und begibt sich in eine Revolte gegen den Staat.
Bei der Fülle dystopischer Romane, darunter viele Jugendbücher, die in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind und Bilder einer düsteren Zukunft zeichnen, muss ein Buch schon mit Stringenz und Originalität punkten, um bestehen zu können. Dem 2018 früh verstorbenen britischen Autor Philip Kerr gelingt das mit seinem 2015 geschriebenen, jetzt in deutscher Sprache erschienenen Thriller nicht.
Das Werk versteht sich als Hommage an den Klassiker von George Orwell, wie schon der Titel verrät. Während Orwell aber eine in höchstem Maße beklemmende Zukunftsvision gestaltete, die in ihrer Grausamkeit schlüssig, überzeugend und bewegend war, erschließt sich der Nachfolger weder stilistisch noch inhaltlich. Das dargestellte Britannien einer nahen Zukunft hat offensichtlich eine Reihe von Kriegen hinter sich bzw. befindet sich noch immer in solchen. Worum genau es dabei ging und wer die Gegner waren und sind, wird nicht ganz klar - an einigen Stellen ist von "Religionskriegen" die Rede, ständig werden (tatsächliche oder vermeintliche) dschihadistische Anschläge verübt und Terroristen öffentlich hingerichtet. Die Umwelt ist in höchstem Maße zerstört und der Lebensstandard niedrig. Warum aber eine manipulative Diktatur, deren Partei plakativ "Populisten" heißt, die Macht an sich reißen und offenbar ohne größere Widerstände ausüben kann und auf welche ideologischen und politischen Wurzeln sie zurückgeht, wird nicht ausgeführt. Es gibt diverse historische Reminiszenzen, die nicht zusammenpassen. Vieles ist offensichtlich dem Nationalsozialismus nachempfunden - darauf deutet nicht nur die Abkürzung des "Senioren Service" hin, auch dessen Motto ist dem der SS entlehnt. Anderes stammt eher aus dem kommunistischen Arsenal, so die gegenseitige Anrede als "Genosse" oder der Gruß, der an den des "Rotfrontkämpferbundes" erinnert. Warum sich die Herrschenden dann ausgerechnet auf einen der entschiedensten Kämpfer gegen Nazideutschland, auf Winston Churchill, berufen, dessen Bild über allem wacht und der das Pendant zum "Big Brother" in Orwells Roman bildet, ist höchst irritierend. Mechanismen der Manipulation breiter Bevölkerungsteile, die aktuell zu beobachten sind, werden eher wahllos aneinandergereiht, so eine durchgestylte Medienverdummung des einfachen Volkes.
Noch misslungener allerdings sind die Figurengestaltung und die Sprache. Warum Florence anfangs überhaupt kein inniges Verhältnis zu ihrer Familie hat (wenn überhaupt zum Vater und einem Bruder), dann aber plötzlich eine neue Nähe zur Mutter aufbaut und ihr Leben riskiert, um sie zu retten, ist nicht nachvollziehbar. Die Wandlung von der überzeugten Elitesoldatin des manipulativen Systems zur Widerstandskämpferin vollzieht sich in atemberaubender Schnelle, ohne dass die inneren Kämpfe und äußeren Einflüsse, die dafür maßgeblich wären, überzeugend dargestellt würden. Die Art und Weise, wie sie die "Revolution" gegen das herrschende System beginnt, ist lächerlich.
Richtig peinlich allerdings sind an vielen Stellen die Dialoge. Florence begegnet Eric zufällig in einem der wenigen noch existierenden Kinos. Da sie noch nie einen "richtigen" Film gesehen hat, rührt ein alter Hollywoodstreifen sie zu Tränen. Eric sucht das Gespräch mit ihr und ohne ihn zu kennen, öffnet sie ihm auf der Stelle ihr Herz, wie er es auch tut. Das sich daraus entwickelnde Gespräch erfüllt jedes Klischee und ist schwer erträglich. Ein Beispiel - Florence beschreibt den Weihnachtsbaum aus dem Film: "Wie silbern er funkelte, als ob er singen und klingeln würde, wie Glockengeläut und ein himmlischer Chor zugleich." Dieses Zwiegespräch zieht sich im selben Stil über mehrere Seiten. Konterkariert werden solche rührseligen Sätze durch viele andere Passagen, an denen sich der Autor bei der Gestaltung von wörtlicher Rede eines Kunst-Slangs bedient, wie er in der geschilderten Welt gesprochen wird, was den Leser zwingt, zum Glossar am Ende des Buches zu blättern.
Ein Roman, der sicherlich mit allerbesten Absichten vor bedrohlichen Entwicklungen in unserer Welt warnen möchte, dies aber an keiner Stelle vermag.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 27.02.2021

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