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„Ich sehne mich nach
Zahnpastageschmack, ich sehne mich nach Tagen, an denen
ich keine Angst hatte vor Antworten auf Fragen, die ich
nun nicht zu stellen wage.“ (172) Sätze wie dieser sind
es, die „Mehr Schwarz als Lila“ von Lena Gorelik zu
einem beeindruckenden Roman über Freundschaft, Liebe,
Erinnerung und den einen Moment machen, in dem alles
aufs Spiel gesetzt wird.
Es geht in „Mehr Schwarz als
Lila“ um einen Kuss, um Freundschaft und irgendwie auch
um Auschwitz. Mehr weiß man zu Beginn nicht. Nur das
noch, dass die Erzählerin nach dem Anfang der
Geschichte sucht, an deren Ende Paul weg ist. Die
1981 geborene Lena Gorelik erzählt in fesselnder und
tiefgründiger Weise von dem Leben der überforderten
17-jährigen Alex, die eigentlich Alexandra heißt, von
Ratte, die eigentlich ganz anders heißt, und von dem
sensiblen Paul. Alex, Ratte und Paul sind wie eine
Familie füreinander. Alle anderen Schülerinnen und
Schüler ihrer Klasse bleiben eine namenlose Masse, die
nur mit Siglen wie D, K oder F von der Erzählerin
bezeichnet werden. Und die Freundschaft der drei ist
für sie alle aufgrund ihres biographischen Päckchens
von großer Wichtigkeit. Dass diese Freundschaft aber
zum Zeitpunkt des Erzählens bereits einen Bruch
erlitten hat und dass Alex dazu nicht unwesentlich
beigetragen hat, das erfährt der Leser nach und nach.
Ferner verrät die Erzählsituation, dass noch eine
weitere Person am Geschehen beteiligt sein muss, denn
Alex adressiert ein zunächst namenloses Du, dass später
als Jonny eingeführt wird. Jonny ist ein Referendar,
der die Klasse von Alex, Ratte und Paul übernimmt und
auf äußerst unkonventionelle Weise führt. Sein Problem:
Er kann keine professionelle Distanz zu seinen
Schülerinnen und Schülern halten. Und so wird er
zusehends Teil der 3er-Gruppe und verschiebt damit alle
Beziehungen nachhaltig. Teil nimmt er so auch an den
Spielen der Gruppe, die in Mutproben bestehen und ihren
Reiz daraus gewinnen, den anderen an den Abgrund
heranzuführen, ihn aber nicht zu stoßen. Diese radikale
und perfide Variante von Wahrheit oder Pflicht beendet
die Langeweile von Alex, Ratte und Paul, die mit dem
Warten auf das Leben einhergeht. Alles erhält nun
eine andere Dynamik, als Alex sich in Jonny verliebt,
Paul mehr und mehr für Alex empfindet und Ratte sich in
S, ein Mädchen aus ihrer Klasse verliebt. Was bis
hierhin eine großartige Studie über Freundschaft sowie
über die Zwischenzeit zwischen Kindheit und
Erwachsensein ist, erhält im vierten Teil, in dem die
Klasse nach Auschwitz reist, eine zusätzliche
Dimension. Auf dem Gelände des ehemaligen
Konzentrations- und Vernichtungslager überschreitet
eines der Spiele alle Grenzen und endet in einem
leidenschaftlichen Kuss zwischen Paul und Alex. Ein
Foto dieses Kusses vor einem Galgen der Gedenkstätte
verbreitet sich in den sozialen Medien wie ein
Lauffeuer.
Der Roman von Lena Gorelik verlangt
Jugendlichen Lesern einiges ab. Denn „Mehr Schwarz als
Lila“ ist wie bspw. Herrendorfs „Tschick“ ein Roman für
Jugendliche, der auch von Erwachsenen mit viel Freude
und obendrein mit Gewinn gelesen werden wird. So
thematisiert Gorelik auch auf innovative Weise Fragen
der Angemessenheit von Erinnerung: „Pietätlos,
schamlos, Sittenverfall, missratene Jugend, die trauen
sich was, Verfall der Jugend, wie geil ist das denn,
ordinär, heiliger Ort, voll krass ey, das Ende des
Anstands“ (207) und so weiter, lauten die
Kuss-Kommentare im Internet. Aber Alex geht es nicht um
Erinnerungskultur. Sie verspielt auf der Gedenkstätte –
psychologisch hoch authentisch entwickelt –, was bisher
ihr Leben zusammengehalten hat. Und zur Darstellung der
fragilen Lebenskonstruktion einer 17-jährigen findet
Gorelik eine beeindruckend knappe Sprache, die zugleich
emotional tiefgehend und poetisch daherkommt. Erzählt
wird im Grunde ein alter Plot: Was, wenn aus
Freundschaft Liebe wird? Was macht Liebe aus
Freundschaft? Die Art zu erzählen, die Suche nach dem
Anfang der Entwicklung, die zum Kuss in Auschwitz
führt, braucht keine Effekte um zu wirken. Einfach
brillant!
zur Autorin
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Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg
geboren, kam 1992 mit ihrer Familie
nach Deutschland. Mit ihrem Debütroman
«Meine weißen Nächte» (2004) wurde sie
als Entdeckung gefeiert, mit «Hochzeit
in Jerusalem» (2007) war sie für den
Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr
Roman «Die Listensammlerin» (2013)
wurde mit dem Buchpreis der Stiftung
Ravensburger Verlag ausgezeichnet.
2015 erschien «Null bis unendlich»,
die «Welt am Sonntag» schrieb: «Ein
starkes, ein emotionales Buch, das
durch seine reduzierte Sprache große
Gefühle offenlegt.»
(c) Foto Charlotte Troll |
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(hjo für die AJuM der GEW) |
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